Ehemaliger EDA-Diplomat
«Die Schweiz müsste Netanyahu verhaften»

Der pensionierte Diplomat Didier Pfirter war an der Entstehung des Internationalen Strafgerichtshofs beteiligt. Ein Gespräch über Israels Staatschef Netanyahu, den gestürzten Diktator Assad – und Geheimkontakte zur Hamas.
Publiziert: 05.01.2025 um 10:39 Uhr
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Aktualisiert: 05.01.2025 um 13:18 Uhr
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Die Schweiz müsste Netanyahu verhaften, sollte er zum WEF nach Davos kommen, ...
Foto: imago/UPI Photo

Auf einen Blick

  • IStGH-Haftbefehl gegen Israels Regierungschef: Schweiz müsste Netanjahu verhaften
  • Schweiz hat besondere Verantwortung für Genfer Konventionen und IStGH-Statut
  • Pfirter war erster EDA-Diplomat mit offiziellen Hamas-Kontakten vor deren Verbot
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Herr Pfirter, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat einen Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu erlassen. Muss die Schweiz ihn verhaften, sollte er zum WEF nach Davos kommen?
Didier Pfirter:
Ja, die Schweiz müsste Netanyahu verhaften. Wie alle Vertragsstaaten hat sich die Schweiz verpflichtet, die Haftbefehle des IStGH bedingungslos auszuführen. Es steht uns nicht zu, zu beurteilen, ob der Entscheid des Gerichts gerechtfertigt ist oder nicht. Aber Ihre Frage ist hypothetisch: Netanyahu wird sich hüten, in die Schweiz zu reisen ohne Zusicherungen, dass man ihn nicht verhaftet.

Das Bundesamt für Justiz teilt mit: Nur der Bundesrat kann die Immunität eines Regierungschefs aufheben.
Das stimmt nach innerstaatlichem Recht, aber der Bundesrat würde vertragsbrüchig, wenn er die Immunität nicht aufhöbe. Wenn ausgerechnet die Schweiz ihre Verpflichtungen verletzte, wäre das verheerend. 

Warum verheerend?
Die Schweiz spielte bei der Erarbeitung des IStGH-Statuts eine besondere Rolle. Der Verbrechenskatalog des Statuts beruht auf den Genfer Konventionen und dient deren Respektierung. Als Depositarstaat dieser Konventionen trägt die Schweiz dafür eine besondere Verantwortung. Als ich in den 1990er-Jahren als Vertreter der Schweiz an der Ausarbeitung des IStGH-Statuts beteiligt war, hatte ich Instruktionen, darauf zu achten, dass dieses nicht hinter die Genfer Konventionen zurückfällt und alle gleich behandelt. 

Sie sind FDP-Mitglied. Gerade Ihre Partei warnt vor einer Verpolitisierung des IStGH.
Diesen Vorwurf erhoben bisher vor allem die Angeklagten – vom Präsidenten Sudans bis Putin. Die EU und die Schweiz hielten stets dagegen. Politisierung wäre, wenn wir Verpflichtungen nur noch selektiv wahrnähmen, je nachdem wie nahe uns ein Angeklagter politisch steht. Afrikanische Staaten haben sich lange Zeit beklagt, dass praktisch nur Afrikaner auf der Anklagebank des Strafgerichtshofs gelandet sind.

Israel verteidigt sich gegen Terroristen.
Dieses Argument ist hier nicht relevant. 

Warum nicht?
Aggressoren und Verteidiger müssen die Genfer Konventionen gleichermassen einhalten. Sie schützen ja die Zivilbevölkerung. Diese darf nicht für den Terror der Hamas bestraft werden, und Israel muss sie schützen. 

Hamas-Terroristen machen, was sie wollen – aber Israel soll sich bitte schön an das Völkerrecht halten?
Nein, auch Hamasführer wurden angeklagt, aber seither fast alle von Israel umgebracht. 

Die Zahnlosigkeit des IStGH zeigt sich auch im Fall Syrien. Der Massenmörder Assad wird im Moskauer Exil nicht zur Rechenschaft gezogen.
Weil Russland und Syrien den IStGH nicht akzeptiert haben, ist der IStGH für Kriegsverbrechen auf deren Staatsgebiet nicht zuständig – das gilt auch für Israel, die USA, China und Indien. Aber der IStGH hat die Zuständigkeit in den palästinensischen Gebieten und in der Ukraine, weshalb er Netanyahu und Putin anklagen kann. 

Assad und Putin wird nichts passieren – und die Welt schaut zu.
Ja, das ist sehr störend, aber entspricht der Realpolitik. Wenn wir warten wollten, bis die Welt perfekt ist, würde sich nie etwas zum Positiven verändern.

Sprechen wir noch über ein anderes Kapitel Ihrer EDA-Karriere: Sie waren der erste EDA-Diplomat, der mit der Hamas offizielle Kontakte pflegte. Haben Sie diese damit aufgewertet?
Nein, wir haben alles vermieden, was die Hamas hätte ausschlachten können. Unsere Kontakte waren immer streng vertraulich. Das respektierten neben der Hamas auch Israel, die USA und die EU, die davon wussten. Das Ziel unserer Kontakte mit der Hamas war, die Hamas zur Aufgabe des Terrors und zur Akzeptanz einer Zweistaatenlösung zu bewegen.

Bedauern Sie, dass das Parlament die Hamas nun verboten und damit solche Kontakte untersagt hat?
Die Schweiz pflegte bisher stets Kontakte aufgrund der Realität, nicht der Moral. Indem sie mit allen relevanten Akteuren sprach, konnte sie viel bewirken. Mit dem Verbot der Hamas haben wir mit unserer langjährigen Haltung gebrochen, dass wir Taten, nicht Organisationen verbieten und bekämpfen. Nun werden wir unter Druck geraten, auch andere Organisationen wie etwa die kurdische PKK zu verbieten, und haben Argumentationsschwierigkeiten, wenn wir es nicht tun. 

Aber nach dem Vorfall vom 7. Oktober 2023 muss die Schweiz doch ein Zeichen gegen den Hamas-Terror setzen.
Vor 30 Jahren hätte ich mir eine Schweizer Aussenpolitik gewünscht, die mehr verurteilt. Inzwischen hat mich die Erfahrung gelehrt, dass man als Kleinstaat nichts bewirkt, wenn man mit den Wölfen heult. Als neutrales Land, das sich zurückhält, mit allen spricht und Brücken baut, konnte die Schweiz aber dazu beitragen, dass Gewalt abnimmt und die Welt ein bisschen besser wird. So hatten wir eine viel bedeutendere Rolle, als es ihrer Grösse entspricht.

Sie sind seit fünf Monaten im Ruhestand und können frei reden. Was stört Sie an der heutigen Schweizer Aussenpolitik am meisten?
Kurzsichtigkeit und mangelndes historisches Bewusstsein. Viele heutige Politiker reagieren zu stark aufgrund momentaner Stimmungen und haben kein Gespür, was ihre Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes bedeuten. Unser Aussenminister hat kürzlich bei der Pressekonferenz zur Neutralitäts-Initiative gesagt: Neutralität müsse man je nach Umständen anders definieren. Das halte ich für gefährlich, denn das ganze Ansehen der Schweiz beruht auf Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit. Wenn wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, dann sind wir nur noch ein Kleinstaat wie jeder andere und statt eines Leuchtturms ein Fähnchen im Wind, der von den Grossen gemacht wird.

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