Zum Beispiel Krakau. Polens zweitgrösste Stadt ist innerhalb eines Monats von 700'000 Einwohnern auf weit über 800'000 angewachsen. 71 Vereine mit Tausenden von Freiwilligen haben Krakau in eine gut organisierte Willkommensstätte für Flüchtende aus der Ukraine verwandelt. Die Opfer von Putins Vernichtungsfeldzug wohnen bei Privaten, in Kirchen und Sporthallen, einem ehemaligen Einkaufszentrum.
Aus ganz Polen, wo laut offiziellen Zahlen 2,5 Millionen Menschen Schutz gefunden haben, sind bewegende Nachrichten über Zuwendung und Engagement zu vernehmen. Ebenso aus Rumänien: Die Zeitung «Adevarul» aus Bukarest berichtet von Grenzbeamten, die ukrainische Kinder mit Plüschtieren empfangen. Der Bürgermeister des siebenbürgischen Kurorts Paltinis stellt 200 Wohnungen zur Verfügung, wo sich Interessierte dauerhaft niederlassen können.
Für die meisten Schweizerinnen und Schweizer war die Ukraine bis vor kurzem ein grosser weisser Fleck auf der Landkarte. Nun haben sich Ortsnamen wie Mariupol und Butscha für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Die einst so ferne Ukraine nimmt bei uns im wahrsten Sinne des Wortes Gestalt an: Beinahe 30'000 Menschen haben hierzulande bislang Zuflucht gefunden – und überfordern Bund, Kantone, Gemeinden, Hilfswerke sowie manchen privaten Gastgeber. Alles andere wäre aber auch nicht normal. Krise ist Grenzerfahrung.
Wobei wir davon ausgehen müssen: Diese Krise fängt für uns eben erst an.
So gibt es aus den westlichen Nachbarstaaten der Ukraine inzwischen nicht mehr nur freundliche Meldungen. Diese Woche hiess es auf einem rumänischen Onlineportal: «Die Welle der Sympathie und Hilfe für vom Krieg gezeichnete Menschen beginnt zu schwinden.» Bewohner der Stadt Cluj-Napoca in Transsilvanien schimpfen auf Social Media über ein örtliches Spital, das Krebspatienten aus der Ukraine kostenlos versorgt. In Polen wird ein prominenter Flüchtlingshelfer mit dem Tod bedroht. Die Regierung von Moldawien hat ein Dutzend Websites gesperrt, weil die gegen Flüchtlinge hetzten. Derweil zieht die grösste Zeitung Bulgariens über Ukrainer in «superteuren Autos» her, die ihre Tankfüllung nicht bezahlten, «in Restaurants Steaks bestellen, sich verwöhnen lassen und die Bulgaren respektlos behandeln».
Die Regierungen in Warschau, Budapest und Bukarest sprechen sich zwar dezidiert gegen die Umverteilung von Ukrainerinnen und Ukrainern auf andere Staaten aus. Doch insgeheim haben die polnischen Behörden zusätzliche Zugverbindungen nach Deutschland aufgegleist, damit mehr Menschen das Land verlassen können. Die ungarische Regierung wiederum inszeniert sich als Wohltäterin, indem sie Flüchtenden die rasche Durchreise nach Wien ermöglicht. Derweil fühlen sich die privaten Helfer in Rumänien vom Staat im Stich gelassen. Vielen droht in Kürze das Geld auszugehen.
Wenn sich den ukrainischen Flüchtlingen in Ost- und Mitteleuropa nicht bald eine Rückkehrperspektive eröffnet, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass eine grosse Zahl von ihnen weiterzieht. Die Zeitung «Adevarul» zitierte neulich einen rumänischen Helfer mit den Worten: «Die Leute brauchen Sicherheit. Diese finden sie in einem Land mit gutem Sozialsystem und besser bezahlten Jobs. Für die Rumänen ist es normal, nach Westeuropa zu gehen. Da ist es klar, dass die Ukrainer ebenfalls dorthin wollen.»
Und es stimmt ja auch: Die Schweiz kann sich eine grosszügige Aufnahmepraxis leisten. Im SonntagsBlick berichteten wir letzte Woche von Überschüssen in den Kassen der Gemeinden und Kantone. Warum sollte nicht ein Teil dieser Mittel und weiteres Geld in die Unterstützung der Schutzsuchenden fliessen?
Russland hat auf europäischem Boden einen furchtbaren Krieg vom Zaun gebrochen. Es wäre naiv zu glauben, dass eine humanitäre Katastrophe dieses Ausmasses ohne Folgen für uns bleibt. Kommt hinzu: Während die Schweiz die Ukraine bislang geflissentlich ignorierte, machte sie Wladimir Putin geschäftsmässig den Hof. 2019 nannte der damalige Bundespräsident Ueli Maurer den Diktator im Kreml einen «Freund der Schweiz». Wer mit solchen Freunden prahlte, steht in der besonderen Pflicht, sich um dessen Opfer zu kümmern.
Vor Wochenfrist hat die Stadt Solothurn erklärt, sie wolle 50 Flüchtlinge aus Krakau übernehmen. 50 von weit mehr als 100'000. Es wird noch viele solche Gesten brauchen.