Laut Uno sind seit dem russischen Einmarsch über vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aus ihrer Heimat geflüchtet. Zwei Millionen, der Grossteil von ihnen, nach Polen. In der polnischen Stadt Krakau sind mittlerweile rund 150'000 Flüchtlinge aus der Ukraine untergekommen. Aufnahmeeinrichtungen kommen immer mehr an ihre Belastungsgrenzen.
Herr Majchrowski, als Putin Ende Februar den Krieg in der Ukraine begann – hätten Sie da gedacht, dass Polen, und speziell auch Ihre Stadt Krakau, derart davon betroffen sein würden?
Jacek Majchrowski: Ich hätte gar nie erwartet, dass es zu einem offenen Krieg kommt. Geschweige denn, dass Putin einen solch gross angelegten Angriff durchführt. Das Ausmass war jenseits meiner Vorstellung.
Sie sagten selbst, dass sich Krakau aufgrund des Flüchtlingsstroms in einer Notfallsituation befinde.
Innert kürzester Zeit sind gut 130’000 Menschen aus der Ukraine in die Stadt gekommen, Krakaus Bevölkerung ist damit um gut 15 Prozent gewachsen. Für sie alle mussten wir Hilfe bereitstellen. Vor dem Krieg lebten bereits 70’000 Ukrainer hier, unzählige davon waren Männer, die auf dem Bau arbeiteten. Viele sind nun in die Ukraine zurückgekehrt, um für ihr Land zu kämpfen. Deswegen haben einige Firmen auf einmal zu wenige Arbeitskräfte. Kommt hinzu, dass unter den Flüchtlingen vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen sind. Und diese benötigen oft zusätzliche Hilfe.
Wie viele Flüchtlinge können Sie noch aufnehmen?
Schwer zu sagen, was noch kommt. Allein in der westukrainischen Stadt Lwiw sind bereits 200’000 interne Flüchtlinge. Sollte die Stadt auch angegriffen werden, werden viele dieser Menschen nach Krakau wollen. Darauf müssen wir uns gefasst machen. Aber klar ist: Wir werden auf keinen Fall Menschen abweisen oder zurückschicken. Und sollten noch viel mehr Flüchtlinge kommen, können sie auch in den Gemeinden im Umland untergebracht werden.
Jacek Majchrowski (75) ist ein polnischer Jurist, Politiker und Professor an der Jagiellonen-Universität. Er gehört dem Bund der Demokratischen Linken an und ist seit dem 19. November 2002 Stadtpräsident der Stadt Krakau. Bei der Stadtpräsidentenwahl im Oktober 2018 konnte er sich in der Stichwahl mit 61,9 Prozent der Stimmen gegen die PiS-Kandidatin Malgorzata Wassermann durchsetzen.
Jacek Majchrowski (75) ist ein polnischer Jurist, Politiker und Professor an der Jagiellonen-Universität. Er gehört dem Bund der Demokratischen Linken an und ist seit dem 19. November 2002 Stadtpräsident der Stadt Krakau. Bei der Stadtpräsidentenwahl im Oktober 2018 konnte er sich in der Stichwahl mit 61,9 Prozent der Stimmen gegen die PiS-Kandidatin Malgorzata Wassermann durchsetzen.
Sind Sie stolz darauf, wie hilfsbereit die Bevölkerung hier bis jetzt war?
Die Situation in der Stadt hat sich innert kürzester Zeit verändert, und ich bin stolz, wie die Menschen hier mit anpacken. Die Solidarität ist auch für mich unglaublich. Sie müssen sehen, Polen und die Ukraine hatten zwar in der Vergangenheit auch Probleme miteinander, aber insgesamt besteht eine enge kulturelle und historische Verbindung. Und diese Verbindung ist heute enger als je zuvor.
Noch immer kommen täglich Zehntausende Menschen über die Grenze. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Die Menschen aus der Ukraine brauchen Stabilität. Bei uns bekommen sie sie. Und sie kommen auch hierher, weil wir hier so nahe an der ukrainischen Grenze sind. Denn viele wollen eigentlich so bald wie möglich wieder zurück in ihre Heimat.
Solange die Menschen aus der Ukraine hier sind, hilft die lokale Bevölkerung, wo sie kann. Brauchen all die Helfer und Freiwilligen selbst auch bald Unterstützung?
Viele machen, was sie können, aber jede Hilfe ist willkommen. Und die kriegen wir zum Glück auch: Erst letzte Woche war der amerikanische Schauspieler und Regisseur Sean Penn hier und hat der Stadt die Unterstützung seiner Hilfsorganisation zugesichert.
Der Krieg findet nicht weit von hier statt. Wie nehmen Sie ihn wahr?
In der Stadt hier, wie in ganz Polen auch, ist es absolut sicher. In Westeuropa haben viele Menschen den Eindruck, dass wir hier schon fast im Kriegszustand sind. Deswegen haben sie ihre Reisen abgesagt. Sie haben Angst, was ich verstehe. Aber ich kann versichern: Unser Leben hier ist fast normal. Jeder und jede ist willkommen und sicher. Es wäre schön, wenn trotz des Kriegs mehr Touristen kämen. Denn was vor allem auffallen wird: die grosse Solidarität der Menschen.
Sie sind nebst Ihrer Rolle als Bürgermeister Krakaus auch Präsident der Organisation der Weltkulturerbe-Städte. Krakaus Altstadt ist Unesco-Weltkulturerbe, genauso der historische Kern von Lwiw. Wie gross ist der kulturelle Verlust des Kriegs in der Ukraine?
Das beschäftigt mich sehr – auch wenn der Tod Tausender Menschen natürlich viel schlimmer ist. Die Ukraine hatte in ihrer Geschichte viele Herausforderungen zu meistern. Dass nun der Krieg hinzukommt, ist tragisch. Kiew ist eine bedeutende, wunderschöne Stadt. Ebenso Lwiw. Der kulturelle Mix dieser Stadt ist einzigartig. Vor dem Zweiten Weltkrieg etwa hatte Lwiw drei Erzbischöfe: einen römisch-katholischen, einen griechisch-katholischen sowie einen armenischen. Das spricht Bände! Die Zerstörung wäre ein enormer Verlust. Und die bereits geschehene Zerstörung anderer Orte ist genauso schwerwiegend.
Wird die ukrainische Kultur diesen Krieg überleben?
Die Kultur und der ukrainische Geist wird alles überdauern – egal, was passiert. Die Kultur wird überleben. Und wird für immer fortbestehen.
Zwei Millionen Flüchtlinge sind bereits nach Polen gekommen, die meisten nach Warschau und Krakau. Worauf muss sich der Rest von Europa in den kommenden Wochen gefasst machen?
Viele Flüchtlinge sind hier angekommen, viele sind weitergereist, einige sind aber auch bereits wieder nach Krakau gekommen. Und wie gesagt, die meisten wollen sowieso zurück in die Ukraine. Wir haben zudem unsere Partnerstädte um Hilfe gebeten. Mit unserer Partnerstadt in der Schweiz, Solothurn, haben wir etwa vereinbart, dass sie 50 der Flüchtlinge direkt bei sich aufnehmen werden. Solothurn ist natürlich keine riesige Stadt, aber wir sind dankbar für diese Art von Zusammenarbeit.