Donnerstag: Kiew
«Für heute hatte ich ein wichtiges Fotoshooting geplant, stattdessen erwachen wir im Bombenhagel. Ich renne nach unten, wo meine Mutter bereits packt. Mit meinen Eltern und meinen zwei kleinen Brüdern besprechen wir, was wir tun sollen. Mein Vater ist gegen eine Flucht, er will in Kiew bleiben. Er ist im wehrpflichtigen Alter, darf das Land nicht verlassen.
Ich befürchte, dass mein Kopf mir Hoffnung vorgaukelt, wo keine mehr ist. Es ist so hart, doch ich weiss, dass wir gehen müssen, sonst werden wir es wohl schon in zwei Tagen bitter bereuen. Wir ergattern tatsächlich noch vier der letzten Bus-Tickets. Für meine Mutter, meine Brüder und mich.»
Freitag: Kiew–Lwiw (Ukraine)
«Am frühen Morgen verlassen wir unser Haus. Vielleicht für immer. Ich rede mir ein, es sei bloss eine kleine Reise und dass wir bald zurückkommen. Nur so schaffe ich es zu gehen. Verabschieden kann ich mich ausser von meinem Vater von niemandem. Ich kann nur wenig mitnehmen: meine Kamera, mein Laptop, ein paar Kleider, etwas Schmuck und meine alten Tagebücher. Für die Erinnerungen.
Es dauert ewig, aus Kiew rauszukommen. Die meisten versuchen, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Plötzlich: schon wieder Luftalarm. Statt im Luftschutzkeller sitzen wir im Bus, der uns aus meiner Heimatstadt bringt. Mitten in der Nacht halten wir in der Westukraine an. Ein junges Mädchen steigt zu, sie ist alleine und weint. Ich sage ihr, sie soll sich neben mich setzen, ich will sie trösten. Sie schläft an meiner Schulter ein. Ihren Namen kenne ich nicht.»
Samstag und Sonntag: Lwiw–Krakau (Polen)
Je näher wir Polen kommen, desto voller wird der Bus. Mittlerweile stehen die Leute auch im Gang. Es ist still, die Stimmung angespannt. Etwa 30 Stunden lang stehen wir im Stau vor dem Grenzübergang, kommen nur im Schneckentempo vorwärts.
Durch die Fenster sehen wir, dass viele zu Fuss unterwegs sind. Mit schweren Taschen, Kindern und Haustieren laufen sie den ganzen Weg durch die Kälte. Die Bewohnerinnen und Bewohner der umliegenden Dörfer bringen Essen und Tee, die Solidarität ist gross. Wir erreichen die Grenze, werden kontrolliert. Einige wehrpflichtige Männer zwischen 18 und 60 Jahren müssen den Bus verlassen. Meine Brüder, 11 und 17, dürfen bleiben. Endlich sind wir in Polen.»
Montag: Krakau–Karlsruhe (Deutschland)
«Der Bus fährt weiter nach Deutschland und bis nach Köln, wo uns der Pate meines Bruders mit seinem Auto abholt. Er überlässt uns seine Wohnung, ist vorübergehend zu Freunden gezogen. Am Montag gegen Mitternacht kommen wir in Karlsruhe an. Vier Tage, nachdem wir Kiew verlassen haben, in denen wir weder geduscht noch richtig geschlafen haben. Doch das spielt alles keine Rolle. Wir sind in Sicherheit.»
Dienstag: Karlsruhe
«Unsere Heimat wird weiterhin bombardiert. Waren es am Donnerstag noch vereinzelte Raketenangriffe, überschlagen sich jetzt die Neuigkeiten über Kämpfe und eingenommene Städte. Die Situation ist so furchtbar, dass es nicht viel bräuchte und ich würde zusammenbrechen und nur noch weinen. Doch ich will helfen. Deshalb versuche ich, einfach nur zu funktionieren.
Ich vermittle zwischen Deutschland und der Ukraine, um Medizinlieferungen zu vereinfachen. Ich informiere mich über Asylgesuche. Auch meine Familie braucht mich gerade sehr, weil ich die Einzige von uns bin, die Deutsch spricht. Ich habe hier ein Austauschsemester gemacht.
Wir gehen ins Karlsruher Stadtzentrum, um unser Geld zu wechseln. Es fühlt sich absurd an, in diesem Alltag ohne Krieg zu stehen. Eine Angestellte der Wechselstube witzelt mit den wartenden Leuten am Schalter herum. Ich bin so überrascht und denke: ‹Wow, Leute können ja lachen!› Das hatte ich schon fast vergessen.»
Mittwoch: Karlsruhe
«Im Moment haben wir alles, was wir brauchen. Wir haben heute mit Vater telefoniert. Er sagte, es sei gut, dass wir gegangen sind. Es werde immer schwerer, an Nahrungsmittel zu kommen. Ich versuche, meine Schuldgefühle zu ignorieren.
Wir sind so froh und dankbar, dass wir es geschafft haben zu flüchten. Wir hatten bei der Flucht solch enormes Glück, ich kann es gar nicht fassen. Schon einen Tag später wären wir wohl nicht mehr aus Kiew herausgekommen: Brücken wurden zerstört, Strassen zerbombt. Ich bin jetzt in Sicherheit – doch alle anderen zu Hause sind es nicht.»
Hier kannst du dich melden: Bei Campax, einer private Bürgeraktion: www.campax.org. Bei der Basler Organisation «Gastfamilien für Flüchtlinge GGG – Stichwort Ukraine» via Telefon 075 413 99 65. Oder bei der Ukraine-Anlaufstelle des Kantons Zürich, per Mail ukraine@sa.zh.ch und via Telefon 043 259 24 41.
Unter anderen haben die Glückskette, Unicef oder das Schweizerische Rote Kreuz zu Geldspenden aufgerufen.
Hier kannst du dich melden: Bei Campax, einer private Bürgeraktion: www.campax.org. Bei der Basler Organisation «Gastfamilien für Flüchtlinge GGG – Stichwort Ukraine» via Telefon 075 413 99 65. Oder bei der Ukraine-Anlaufstelle des Kantons Zürich, per Mail ukraine@sa.zh.ch und via Telefon 043 259 24 41.
Unter anderen haben die Glückskette, Unicef oder das Schweizerische Rote Kreuz zu Geldspenden aufgerufen.