Vor vier Jahren überrollte eine violette Welle die Schweiz. Eine halbe Million Frauen – Lehrerinnen, Mütter, Kaderfrauen – gingen auf die Strasse und forderten: Lohngleichheit, ein Ende der Gewalt gegen Frauen, die Anerkennung unbezahlter Arbeit. Man sprach von einem historischen Tag – der die nächsten vier Jahre massgeblich prägen würde.
Was hat der Frauenstreik 2019 bewirkt? Wie steht es um die Gleichstellung heute? Eine Übersicht.
Lohngleichheit
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – in diesem Bereich sahen die Teilnehmerinnen einer Umfrage der Zeitschrift «Annabelle» 2021 den grössten Handlungsbedarf. Zu Recht: Frauen verdienen gemäss der neusten Lohnstrukturerhebung durchschnittlich 1500 Franken weniger im Monat als ihre männlichen Kollegen.
Die Lohnunterschiede nehmen zwar ab, aber sehr langsam. 2012 verdiente ein Mann noch 19,3 Prozent mehr als eine Frau, 2020 waren es noch 18 Prozent.
Die Hälfte der Lohndifferenz lässt sich durch Faktoren wie Berufserfahrung oder Ausbildung erklären: Frauen erhalten weniger Lohn als Männer, weil sie eher schlecht bezahlte Berufe wählen und weil sie im Kader schwächer vertreten sind. Die andere Hälfte hingegen weist auf eine mögliche Diskriminierung hin.
Im Juli 2020 trat das revidierte Gleichstellungsgesetz in Kraft. Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden müssen neu Lohnanalysen durchführen – werden jedoch nicht sanktioniert, wenn sie ungleiche Löhne zahlen. Im Mai nahm der Nationalrat einen Vorstoss an, der erstmals die Möglichkeit von Bussen vorsieht. Als Nächstes entscheidet der Ständerat.
Vereinbarkeit
Sobald Frauen ihr erstes Kind bekommen, sinkt ihr Einkommen drastisch. Das zeigen Daten des Wirtschaftsprofessors Josef Zweimüller von der Universität Zürich. Die Mutterschaftsbusse beläuft sich in der Schweiz auf 62 Prozent. Bei den Vätern ist kein solcher Effekt nachweisbar.
Frauen arbeiten nach der Geburt eines Kindes häufig in tiefen Pensen. Dies führe zu finanzieller Abhängigkeit, sagt Susanne Nef (41) von der Fachstelle für Gleichstellung des Kantons Zürich: «Selbst wenn die Kinder erwachsen sind, verdient nur ein Drittel der Frauen genug für den eigenen Lebensunterhalt.»
Das hat weitgreifende Auswirkungen: «Frauen haben ein erhöhtes Risiko für Altersarmut», so Nef. Daran hat sich seit dem Frauenstreik nichts geändert. 2021 bezogen Frauen aus der beruflichen Vorsorge 1200 Franken pro Monat. Bei den Männern sind es 2100 Franken. Die Reform der beruflichen Vorsorge, die das Parlament im Frühling beschlossen hat, soll diese Lücke verkleinern. Hängig ist auch die Individualbesteuerung, die Anreize schaffen soll, damit sich Arbeit für den Zweitverdiener – meistens die Frau – auch lohnt. Beide Vorlagen sind umstritten.
Auf der politischen Agenda sind zudem die Kita-Kosten, die in der Schweiz im europäischen Vergleich immer noch sehr hoch sind. Der Nationalrat will das ändern und hat diesen Frühling beschlossen, die Kitas künftig mit rund 700 Millionen Franken pro Jahr zu subventionieren. Im Ständerat dürfte es die Vorlage schwer haben.
Repräsentation
Bei den Wahlen im Herbst 2019 – kurz nach dem Frauenstreik – schnellte der Anteil Frauen im Nationalrat von 32 auf 42 Prozent hoch. Auch im Ständerat sind heute deutlich mehr Frauen vertreten: 2015 betrug ihr Anteil noch 15 Prozent; aktuell sind es mit 28 Prozent fast doppelt so viele. Damit rückte die Schweiz im europäischen Vergleich von den hinteren Plätzen auf Rang sieben vor. Eine ähnliche Entwicklung fand auf kantonaler Ebene statt. Machten die Frauen in den kantonalen Parlamenten 2019 erst ein Viertel aus, ist es mittlerweile ein Drittel.
Der höhere Frauenanteil verändert den Politbetrieb: In der aktuellen Legislatur kamen gesellschaftspolitische Vorlagen wie die Ehe für alle und der Vaterschaftsurlaub durch – auch wegen des höheren Frauenanteils.
Auch in der Wirtschaft holen die Frauen auf. Gemäss Schillingreport ist der Anteil Frauen im Verwaltungsrat bei den grössten Schweizer Unternehmen zwischen 2019 und 2023 gestiegen: von 19 auf 27 Prozent. Die Zahl nähert sich dem empfohlenen Richtwert von 30 Prozent.
Gewalt gegen Frauen
Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig. Jede fünfte Frau ab 16 Jahren hat einen sexuellen Übergriff erlebt; jede zehnte Frau Sex gegen ihren Willen; alle zwei Wochen stirbt eine Frau durch häusliche Gewalt. Und in den letzten Jahren haben die polizeilich registrierten Straftaten bezüglich sexueller Gewalt zugenommen.
Einiges weist aber darauf hin, dass dies an einer grösseren Sensibilisierung liegt und Frauen sich heute eher trauen, ihren Peiniger anzuzeigen.
Denn in den letzten vier Jahren hat sich viel getan. Diesen Frühling hat der Ständerat einer Lösung zugestimmt, die das Sexualstrafrecht modernisiert. Nach heutigem Recht muss eine Frau beim Sex glaubhaft gemacht haben, dass sie sich mit allen Mitteln gegen gewehrt hat – sonst gilt es nicht als Vergewaltigung. Künftig genügt ein «Nein». Zudem wird das sogenannte «Freezing», die Schockstarre, anerkannt.
Opfer von sexueller Gewalt sind also künftig gesetzlich besser geschützt. Das Parlament hat in einem emotionalen Prozess – vorangetrieben von einer Gruppe von Frauen um SP-Nationalrätin Tamara Funiciello – einen Kompromiss gefunden, der vor einigen Jahren so nicht denkbar gewesen wäre.
Die Revision des Sexualstrafrechts hat zudem eine breite gesellschaftliche Debatte entfacht, weit über das Gesetz hinaus. «Das Thema ist heute sehr präsent, und die Perspektive darauf hat sich teils verändert: In der Wahrnehmung ist eine Frau nicht mehr per se selber schuld, wenn sie Opfer von Gewalt wird», sagt Fachstellenleiterin Nef.
In den letzten Jahren sprach die Schweiz zudem mehr Geld für den Schutz von Opfern sexueller und häuslicher Gewalt. Es gibt mehr Präventionsprogramme, Frauenhäuser sind besser finanziert. Ab 2025 gibt es zudem eine 24-Stunden-Hotline für Gewaltopfer.
Trotz aller Verbesserungen: Es fehlen rechtliche Mittel gegen Stalking. Es mangelt an Daten zu häuslicher und sexueller Gewalt. Zudem sind zwei Volksinitiativen hängig, die das Recht auf Abtreibung einschränken wollen.