Die einen mögen, die anderen verachten sie
Was die Schweizer Schuldenbremse so besonders macht

Die Schweiz und Deutschland haben strenge Schuldenregeln. Doch wo liegen die Unterschiede, und welche Reformen stehen zur Diskussion?
Publiziert: 08.12.2024 um 18:47 Uhr
Die Schweiz ist stolz auf ihre Schuldenbremse. Am stolzesten aber ist Finanzministerin Karin Keller-Sutter.
Foto: Thomas Meier
Peter Rohner
Peter Rohner
Handelszeitung

Kritiker bezeichnen sie als «Zukunftsbremse», Bundesrätin Karin Keller-Sutter nennt sie «beste Freundin»: Beim Thema Schuldenbremse wird es schnell emotional.

In Deutschland hat die Fiskalregel zum Kollaps der Ampelregierung geführt. Die Rufe nach einer Reform sind lauter und vielfältiger geworden – und man schaut zum Teil neidisch auf das Schweizer Modell. 

Doch auch hierzulande ist eine Debatte um die Schuldenbremse entbrannt, befeuert durch die Extraausgaben während der Pandemie und die geopolitische Zeitenwende, die höherer Armeeausgaben erfordert.

Doch worum geht es in den Debatten genau? Welche Schuldenbremse ist strenger? Und kann die Schweizer Schuldenbremse Deutschland als Vorbild dienen?

Spare in guten Zeiten …

Im Kern sind sich die beiden Schuldenregeln sehr ähnlich. Die Idee: auf Dauer nicht mehr ausgeben als einnehmen. Und dieser Grundsatz ist auf Verfassungsebene verankert. «Der Bund hält seine Ausgaben und Einnahmen auf Dauer im Gleichgewicht», heisst es dazu in der Bundesverfassung. Das deutsche Grundgesetz verlangt, dass «die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind». 

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Dabei wird die Konjunktur berücksichtigt, so dass in schlechten Zeiten mehr Spielraum besteht als in guten Zeiten. Auch die Berechnung des Konjunkturfaktors ist recht ähnlich und basiert auf der Vorstellung einer Produktionslücke, also einer Abweichung vom Potenzialwachstum. 

Zudem erlauben beide Schuldenbremsen eine ausserordentliche zusätzliche Verschuldung in besonders schweren Krisen, wie etwa während der Corona-Pandemie. 

Und was den beiden Regelwerken ebenfalls gemeinsam ist: Sie sind beliebt und im Grundsatz breit akzeptiert, bei Politikern vielleicht etwas weniger als bei den Ökonominnen. Nur gerade 6 Prozent der vom Münchner Ifo-Institut befragten VWL-Professoren wollen die deutsche Schuldenbremse abschaffen. 44 Prozent wollen sie erhalten, aber reformieren. Fast die Hälfte will sie in der heutigen Form erhalten.

In der Schweiz dürfte die Zustimmung noch grösser sein. Das Volk hat die Einführung der Schuldenbremse 2001 mit fast 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Auch die Ökonomen halten sie für ein Erfolgsmodell. Denn sie zwingt zur Entscheidung, was man finanzieren will und was nicht.

Schweizer Regel ist strenger

Doch in der Ausgestaltung der beiden Schuldenregeln gibt es kleine, aber bedeutende Unterschiede.

«Die deutsche Schuldenbremse ist aus ökonomischer Sicht weniger streng», erklärt der Ökonom Martin Mosler. Der Leiter des Bereichs Fiskalpolitik am Luzerner Institut für Wirtschaftspolitik (IWP) hat sich in seiner Forschung mit beiden Systemen auseinandergesetzt.

Die unter Kanzlerin Angela Merkel 2009 eingeführte Regel lässt ein kleines strukturelles Defizit in der Höhe von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) zu. Das geht in der Schweiz nicht. Hier muss das Budget ausgeglichen sein. Die ordentlichen Ausgaben sind fest an die Höhe der ordentlichen Einnahmen gebunden.

Und das ist der zweite feine Unterschied: Die Schweizer Schuldenbremse zielt direkt auf die Ausgaben, während die deutsche die Nettokreditaufnahme als Zielgrösse hat und «die Ausgaben nur ein indirektes Ergebnis der eigentlichen Zielgrösse sind», sagt Mosler.

Dabei wird jedes Jahr anhand der geschätzten Einnahmen und des Konjunkturfaktors ein Maximalbetrag festgelegt, den der Bund ausgeben darf – der sogenannte Ausgabenplafond. Weichen dann die effektiven Ausgaben vom Plafond ab, wird der Betrag einem Ausgleichskonto belastet oder gutgeschrieben.

Ausnahmen für Notlagen

Bei einem Minus muss der Fehlbetrag in den Folgejahren abgebaut werden. Überschüsse hingegen müssen zum Schuldenabbau eingesetzt werden. 

Auch wegen dieser Asymmetrie bezeichnet der Lausanner Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart die Schweizer Bremse als die strengste der Welt. Denn die Konstruktionsweise habe einen nominellen Schuldenabbau zur Folge.

Mit der Einführung der Schuldenbremse sind die Bundesschulden zwischen 2003 und 2019 tatsächlich gesunken, von 124 auf 97 Milliarden Franken.

Doch auch die deutsche Schuldenbremse hat zu einer Entschuldung geführt. Zwischen der Einführung 2011 und 2019 ist die sogenannte Maastricht-Schuldenstandsquote von 80 auf 59 Prozent gesunken.

Doch dann kam Corona. Und in dieser Krise wurde ein weiterer Unterschied der beiden Schuldenregeln offensichtlich. Die Möglichkeit, in solchen Notlagen an der Schuldenbremse vorbei mehr Geld auf Pump auszugeben, besteht zwar in beiden Set-ups. Doch im Unterschied zu Deutschland ist in der Schweiz die Tilgung dieser ausserordentlichen Schulden klar geregelt. In Deutschland erfolgt die Tilgung lediglich «konjunkturgerecht», aber es fehlt eine Tilgungsvorschrift mit Zeithorizont.

Verbindlicher und transparenter

«Da sind die Schweizer verbindlicher», sagt Mosler. Das Defizit des ausserordentlichen Haushalts muss in sechs Jahren über den ordentlichen Haushalt kompensiert werden. Weil der Fehlbetrag wegen der Hilfen zur Abfederung der wirtschaftlichen Corona-Folgen mit rund 30 Milliarden Franken derart gross war, hat das Parlament mit einer Gesetzesänderung die Frist für den Abbau der Pandemieschulden auf elf Jahre verlängert.

Auch Deutschland hat in der Pandemie von der Ausnahmeregel Gebrauch gemacht. So wurde der Haushalt 2021 nachträglich in Form einer Kreditermächtigung um 60 Milliarden Euro aufgestockt. 

Doch weil es für diese Zusatzschulden keine klare Tilgungsregel gibt, bietet sich Raum für Budgettricksereien. Die Ampelregierung wollte das Geld, das ursprünglich für die Beseitigung der Pandemiefolgen geplant war, für den Klimaschutz nutzen und schichtete es 2022 rückwirkend um. Doch das Bundesverfassungsgericht pfiff die Regierung zurück: Die Änderung des Nachtragshaushalts 2021 sei verfassungswidrig und nicht Schuldenbremsen-konform, urteilte das Gericht vor gut einem Jahr. Damit fehlten der deutschen Regierung mit einem Schlag 60 Milliarden und viele Beobachter taxieren dies als Anfang vom Ende der Ampelregierung.

SBB ist fast so heilig wie die Schuldenbremse

Das Schweizer Schuldenbremse ist also generell strenger, strikter und transparenter. Doch anders als die deutsche gilt sie nur auf Bundesebene. Die Kantone können selber entscheiden, ob sie sich eine Fiskalregel geben wollen. Das sei schonender für den Föderalismus, sagt Mosler. In Deutschland unterliegen auch die Bundesländer der Berliner Regel.

Zudem gibt es in der Schweiz kein Verfassungsgericht, das dem Parlament auf die Finger schaut. Ausserdem erscheint die Schweizer Schuldenbremse an gewissen Stellen löchriger. 

Das zeigt sich im Umgang mit der Finanzierung der SBB. Die Darlehen des Bundes an die Staatsbahn sind sogenannte Tresoriedarlehen und fallen nicht unter die Schuldenbremse. Auf diesem Weg hat der Bund seit 2004 knapp 6 Milliarden Franken zusätzliche Schulden angehäuft. Der Bundesrat möchte das ändern und die SBB-Kredite ab einem bestimmten Verschuldungsniveau in den ordentlichen Bundeshaushalt aufnehmen. Die Vorlage wurde vom Parlament etwas aufgeweicht und steht nun vor der Schlussabstimmung.

In Deutschland hingegen gehen die Diskussionen in die entgegengesetzte Richtung. Da die Bahninvestitionen oft an der Schuldenbremse scheiterten, will man das Schweizer Modell kopieren. «Die Schweiz hat es viel klüger gemacht, weil sie ihr Bahnnetz ausserhalb der Schuldenbremse ausgebaut hat», sagt die Ökonomin und SPD-Politikerin Philippa Sigl-Glöckner. Auch Deutschland könne Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur über Darlehen an öffentliche Unternehmen finanzieren. Das sei rechtlich möglich.

Auch andere Vorschläge zielen in Deutschland auf eine Aufweichung oder Flexibilisierung der Schuldenbremse ab, etwa indem nach einer Krise mit Ausnahmestatus eine Übergangsphase mit etwas weniger strengen Vorgaben eingeführt werden soll. Selbst der Bundesbank-Präsident Joachim Nagel ist mittlerweile für mehr Spielraum bei der Fiskalregel. Es müsse auch stärker zwischen Staatskonsum- und Investitionen unterschieden werden. 

Umstrittene Forderung nach Schuldenquotenbremse

Doch auch in der Schweiz werden Forderungen nach einer Reform der Schuldenbremse laut, nicht nur von links. Neuerdings zeigen auch Verteidigungsministerin Viola Amherd und Mitte-Präsident Gerhard Pfister Sympathien für eine Lockerung der Schuldenbremse. 

Im Kern geht es in der Debatte darum, die Bremse an der Stabilisierung der Schuldenquote zum BIP auszurichten statt am absoluten Niveau.

Mit der aktuellen Konstruktion tendiert die Verschuldung langfristig gegen null, weil der Zähler gleich bleibt oder gar schrumpft, aber der Nenner immer grösser wird. Auf diesen Punkt hat der Genfer Wirtschaftsprofessor Cédric Tille schon länger hingewiesen.

Der grünliberale Nationalrat Roland Fischer ist mit einem entsprechenden Postulat letztes Jahr beim Bundesrat und in der grossen Kammer abgeblitzt. Die SP hat im September mit einer Motion einen zweiten Versuch lanciert, die Schuldenbremse in diese Richtung zu modernisieren. 

Solche Vorstösse kommen beim liberalen IWP gar nicht gut an. Bevor man eine Aufweichung der Schuldenbremse fordere, sollte man über die fragwürdigen Subventionen diskutieren, sagt Mosler. Und zur Idee einer Schuldenquotenbremse meint er: «Es gibt kein ökonomisches Gesetz, wonach der Staat und seine Verschuldung gemäss einer Quote wie etwa der Wirtschaftsleistung mitwachsen muss.» Er findet ohnehin die Logik verkehrt: Man sollte zuerst die wirklich nötigen Staatsaufgaben definieren und danach die Finanzierung ausarbeiten, und nicht zuerst das maximal mögliche Verschuldungspotenzial bestimmen und darauf basierend Gelder verteilen.

Auch der liberale Thinktank Avenir Suisse hält nichts von der Umstellung der Schuldenbremse auf eine feste Schuldenquote. Dies käme einer Lockerung gleich, die zwangsläufig zu einem Ausbau des Staates führen würde. Da die Steuereinnahmen auch in den kommenden Jahren weiterwachsen werden, würde zusätzliche Verschuldung automatisch eine höhere Staatsquote bedeuten. Das heisst, die Staatsausgaben würden einen noch grösseren Anteil der Wirtschaftsleistung ausmachen.

Legitim hingegen sei die Forderung, die durch ausserordentliche Ausgaben angehäufte Schulden mit vergangenen Überschüssen zu verrechnen. Sonst verkomme der Schuldenabbau zu einem Dogma und die Schuldenbremse könnte an Glaubwürdigkeit verlieren.

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