Fast vier Monate sind es her, seit Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine startete. Doch der Krieg dauert eigentlich schon viel länger: 2014 eroberte und annektierte Russland die Krim und unterstützte Separatistengruppen in der Ostukraine. Seither köchelte der Konflikt mal mehr, mal weniger heftig vor sich hin.
Eine wichtige Rolle, um zu vermitteln und eine Eskalation zu verhindern, spielte damals die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Schweiz übernahm just 2014 den Vorsitz der Organisation – und der damalige Aussenminister Didier Burkhalter (62) wurde mitten in die Weltpolitik katapultiert. Dabei gleiste er unter anderem eine OSZE-Sonderbeobachtungsmission auf.
Burkhalter verfolgt Lage in Ukraine
Kein Wunder also, dass Burkhalter die aktuelle Entwicklung in der Ukraine mit Interesse verfolgt, auch wenn er sich mit seinem Rücktritt 2017 praktisch vollständig aus dem Politbetrieb zurückgezogen hat. Nur ganz selten meldet er sich zu aktuellen Ereignissen zu Wort – eine Ausnahme machte er beispielsweise letztes Jahr für die nationale Corona-Impfkampagne.
Bezüglich des Ukraine-Krieges hält er sich zurück. Eine Interview-Anfrage lehnt er ab. Er wolle nicht mehr als «politischer Akteur» auftreten, stellt er in einer Mail klar. Ebenso möchte er verhindern, dass seine Aussagen gegen den amtierenden Bundesrat verwendet werden könnten. «Servir et disparaître» lautet Burkhalters Motto – dienen und verschwinden.
Mit ganzem Herzblut dabei
Trotzdem gibt der frühere Aussenminister dem Journalisten einige Gedanken zur Ukraine mit auf den Weg. «Ich habe mein ganzes Herzblut in das OSZE-Engagement gesteckt», erinnert er sich. Er habe drei Jahre lang gern seine ganze Energie eingebracht, «um die Krise in der Ukraine jeden Tag einzudämmen, damit sie nicht den europäischen Kontinent in Brand setzt».
Er sei heute wie damals davon überzeugt, dass die Diplomatie dann all ihre konstruktiven – insbesondere deeskalierenden – Wirkungen entfaltet, «wenn sie sich in zunächst unauffälligem Handeln und in bescheidenen, nur in der Sache notwendigen öffentlichen Auftritten entfaltet».
Ähnliche Probleme 2014 wie heute
Was die aktuelle Situation betrifft, sieht Burkhalter die Diplomatie mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie schon 2014. «Zwischen Russland und dem Westen gibt es grosse kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung der Geschichte», stellt er fest. Eine Arbeitsgruppe mit allen wichtigen Akteuren (auch Russland) habe damals versucht, diese Unterschiede für die Zukunft zu überwinden.
Ein Unterfangen, das nicht gelang. Für eine konkrete und dauerhafte Entspannung hätte die Arbeit von einem «starken politischen Willen zur Annäherung begleitet werden müssen», analysiert Burkhalter. «Dies war in den letzten Jahren nicht der Fall, und das Misstrauen ist – ebenso wie die Gefahr – weiter gewachsen, wo es doch unerlässlich ist, immer wieder Brücken des Vertrauens zu bauen.»
Schweiz als Brückenbauerin
Als mögliche Brückenbauerin sieht Burkhalter weiterhin die Schweiz mit ihrer Tradition der Guten Dienste. «Die Diplomatie unseres Landes, wie ich sie verstehe, besteht darin, ständig Brücken zwischen den Ufern zu bauen, auch zwischen denen, die scheinbar weit auseinander liegen oder tiefe Unterschiede aufzuweisen scheinen», erklärt er. Es gehe darum, immer an eine Lösung zu glauben.
Und alle Anstrengungen in Richtung Frieden zu lenken. «Die Kontakte müssen unermüdlich aufrechterhalten werden», betont Burkhalter. So habe er im Ausland insbesondere auch von Präsidenten immer wieder zu hören bekommen, die Schweiz sei «das Land, in dem man den Frieden zu bewahren versteht».
In diesem Sinne sollte sich die Debatte in der Schweiz denn auch weniger um Fragen der Mittel – wie etwa Neutralität oder Waffenlieferungen – drehen, sondern um die Strategie. «Aus meiner Sicht sollte das strategische Ziel klar die Friedensförderung sein: die Guten Dienste. Alle Mittel sollten jetzt dafür voll genutzt und sicher nicht abgeschwächt werden», so Burkhalter. Allerdings ist er sich selbst nicht sicher, ob das derzeit funktioniert. «Die Frage lautet: Gibt es noch einen Raum für eine Aktion wie 2014? Das kann nur der aktuelle Bundesrat beantworten.»
In Verhandlungen «echte Fragen» angehen
Der Neuenburger weist daraufhin, das noch ein schwieriger Weg vor allen Parteien liegt, selbst wenn die Kriegshandlungen eingestellt werden. Dann müsse man in Verhandlungen die echten Fragen angehen:
- die unterschiedlichen Auslegung der Grundprinzipien der europäischen Sicherheit – und hier insbesondere die Einheit der europäischen Sicherheit, wonach kein Land seine eigene Sicherheit auf Kosten eines anderen erhöhen darf
- die Frage der Unverletzlichkeit der Grenzen
- die Rolle und Entwicklung der Nato
- die wirtschaftlichen, energiepolitischen und strategischen Partnerschaften zwischen Ost und West
- bis hin zu vertrauensbildende Massnahmen, ganz besonders im Bereich der Abrüstung
«Die Ukraine ist seit langem ein Land, das seine Leidenschaften und Kulturen zwischen Ost und West teilt», sinniert Burkhalter. Er verweist darauf, dass der Name Ukraine «Grenzland» bedeute. «Von Lwiw bis Mariupol sind es Hunderte von Kilometer und Tausende von verschiedenen menschlichen Geschichten. Vielleicht ist es das schreckliche Schicksal der Ukraine, das erschreckende und verheerende Missverständnis zwischen Ost und West zu kristallisieren. Und dies, obwohl dieses Land die Rolle des wichtigsten Scharniers spielen könnte.»
Allen Akteuren in die Augen schauen
Schliesslich fügt Burkhalter seiner Mail noch einen letzten Gedanken bei: «Es ist sicher gut, unsere Werte und die Demokratie im Besonderen zu verteidigen. Es ist aber auch wichtig, der Welt ins Auge zu sehen, mit all ihren Akteuren und nicht nur mit denen, die uns am besten passen oder uns am ähnlichsten sind», schreibt er. «Dies, um die Demokratie nicht in eine Art westliche Zitadelle zu verbannen. Um als Schweiz weiterhin Brücken zwischen den tiefen Unterschieden zu bauen, die in unserer Welt existieren – und noch lange existieren werden, sofern diese Welt selbst weiter existiert.»