Ausgerechnet der frühere SVP-Bundesrat Adolf Ogi (80) sorgte in der Landesregierung dafür, dass eine Mehrheit die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen verlangte, also erst den Start der Gespräche für eine Mitgliedschaft und nicht schon über den Beitritt selbst. Das zeigen nach 30 Jahren erstmals veröffentlichte Protokolle aus dem Bundesrat.
Und just dieses Beitrittsgesuch dürfte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass die EWR-Abstimmung am 6. Dezember 1992 scheiterte. 50,3 Prozent der Stimmenden lehnten den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ab.
«Ja», räumt Ogi gegenüber Blick ein, «vermutlich gab das EU-Beitrittsgesuch tatsächlich den Ausschlag. Aber war es deshalb falsch, dieses Gesuch in Brüssel zu deponieren? Nein! Denn so konnten die Schweizer Bürgerinnen und Bürger im Wissen um das Fernziel des Bundesrats über den EWR abstimmen.» Es sei richtig und wichtig, dem Volk reinen Wein einzuschenken.
Fehler gemacht, aber einen anderen
Hat der Bundesrat also 1992 keinen Fehler gemacht? «Doch, aber wohl nicht denjenigen, dass wir zögerlich waren, wie uns Zeitungen wie ‹BZ› und ‹Bund› vorwerfen, seit die Bundesratsprotokolle von damals nun entsperrt sind», so Ogi. Offenbar sei man dort traurig darüber, wie sich der Bundesrat vor 30 Jahren verhalten habe. «Stattdessen hatten wir die Wirkung der damals noch neuen brieflichen Abstimmung unterschätzt», räumt er ein. Die EWR-Abstimmungssendung aus dem Bundesbriefarchiv und die anderen Auftritte von Bundesräten in der Romandie und der italienischsprachigen Schweiz kamen zu spät. Die Leute hatten da das Abstimmungscouvert längst eingeworfen.
Auf die «blöde Feststellung», er sei nervös gewesen, als es im Bundesrat um die EWR-Frage ging und er sei «eingeknickt», sagt der einstige SVP-Magistrat nur, «ich hatte Bedenken und habe diese geäussert», so wie das seine Aufgabe gewesen sei. Manche Dinge seien bei der Übersetzung aus dem Französischen zudem nicht ganz korrekt wiedergegeben worden – «und der strategische Entscheid, der EU beizutreten, ist ja schon 1991 beschlossen worden». Er verstehe die Kritik, der Mutlosigkeit deshalb nicht.
Was aber stimme: In der Diskussion mit den anderen Regierungsmitgliedern habe er sich davon überzeugen lassen, dass das Gesuch die ehrlichen und richtigen Signale nach Brüssel aussende und der Schweiz Zeit – «ja Zeit!» – verschaffe. «Es hätte ja erstmal vier bis fünf Jahre gedauert, bis man sich mit der EU auf einen Beitritt geeinigt oder eben nicht geeinigt hätte. Nach dem Bundesrat und dem Parlament hätte das Volk das letzte Wort gehabt. «So wie das die SVP immer verlangt», ergänzt Ogi.
Stimmung aufgenommen
«Man muss den Entscheid zudem aus der Zeit heraus betrachten», betont Ogi. Am 17. Mai sagte das Stimmvolk Ja zur Mitwirkung bei den Bretton-Woods-Institutonen und zur Weltbank. «Vor diesem Hintergrund entschied der Bundesrat am Montag darauf, das Gesuch einzureichen. Das war sicher nicht falsch, die Stimmung war multilateralen Organisationen gegenüber offen.»
Wie heute ersichtlich, aber auch nicht verwunderlich, waren es die lateinischen Bundesräte, die für die Einreichung des Gesuchs waren. «Und die Deutschschweizer dagegen.» Er habe aber immer wieder mit der Minderheit und gerade mit den Romands gestimmt. «Schliesslich komme ich aus einem zweisprachigen Kanton und lebte drei Jahre lang in der Romandie», so der Berner.
«Für mich lautet die Frage heute nicht: War es falsch, vor der EWR-Abstimmung das Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu deponieren? Sondern sie lautet: Ist es richtig, dass die Landesregierung mit der grösstmöglichen Offenheit agiert? Und hier kann die Antwort wohl nur lauten: Ja!» So habe er sich der Meinung von Bundespräsident René Felber (SP, 1933 - 2020), Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz (FDP, 1936 - 1998) und Bundesrat Flavio Cotti (CVP, 1939 - 2020) angeschlossen.
Für einmal nicht bei Blocher
Und dass die Haltung in der Frage des EU-Beitritts eben nicht einfach schwarz-weiss gewesen sei, zeige schliesslich auch der Umstand, dass für einmal ein Riss mitten durch die Parteien ging – «was eigentlich schon verwunderlich ist!» Otto Stich (SP, 1927 - 2012), Kaspar Villiger (FDP, 81) und Arnold Koller (CVP, 89) standen auf der anderen Seite. Und dass er mal nicht auf derselben Seite wie der spätere Bundesrat Christoph Blocher (SVP, 82) stand, «ist ja auch keine Überraschung», lacht Ogi.