Der ehemalige Bundesrat Adolf Ogi (79) hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Manchmal zum Ärger seiner SVP, manchmal zum Ärger seiner damaligen Bundesratskollegen. Und auch jetzt in der Corona-Pandemie hält er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.
«Meine Partei hätte sich klar abgrenzen müssen von radikalen Gruppierungen!», stellt Ogi im Gespräch mit der «NZZ» klar. Er kritisiert, dass die SVP gesellschaftliche Gräben zwischen Massnahmenbefürwortern und -gegnern bewirtschaftet. Doch nicht nur in der SVP habe es Impfgegner. «Die Spaltungstendenzen sind eine Tatsache und werden nach der Pandemie nicht einfach verschwinden.» Gefragt seien hier vor allem der Bundesrat und die Kantonsregierungen.
«Hatte Herr Berset zu viel Macht?»
Doch auch mit der Landesregierung geht Ogi teilweise hart ins Gericht. Wenn die Pandemie vorbei ist, müsse eine «schonungslose Analyse» gemacht werden. Was lief gut, was schlecht? Funktioniert unser Krisenmanagement? «Hatte Herr Berset zu viel Macht?», fragt Ogi.
Und er stellt auch ganz grundsätzliche Fragen: Braucht es künftig neun statt sieben Bundesräte? Soll der Bundespräsident künftig drei oder vier Jahre im Amt bleiben? «Und wenn man schon am Aufräumen ist: Sind die Departemente inhaltlich sinnvoll aufgeteilt? Jenes von Frau Sommaruga ist schlicht unführbar geworden. Verkehr, Energie und Klimaschutz – wie wollen Sie da vorankommen?»
«Immer dieser Alarmismus, um sich ja abzusichern»
Adolf Ogi stellt aber gerade auch bei der Krisenkommunikation des Bundesrats Defizite fest. «Statt der wöchentlichen Durchhalteparolen aus dem Medienzentrum in Bern hätte man mal eine Aktion «Danke schön» organisieren sollen – für alle, die als gute Staatsbürger mitmachen, die Masken tragen, Hände waschen, Abstand halten, sich impfen lassen», findet er. «Immer dieser Alarmismus, um sich ja abzusichern, falls es doch noch schlechter kommen sollte. Es braucht doch wieder mehr Mut und Zuversicht in der Politik! Sonst hängen die Menschen ab.»
Apropos Abhängen: Für den Bergler Ogi ist das ein generelles Thema, das ihn beschäftigt. Bund und Kantone müssten auch ausserhalb der Corona-Pandemie dafür sorgen, «dass Minderheiten sich nicht benachteiligt fühlen und sich nicht von der Politik abwenden, gerade in den Randgebieten». So gebe es in seinem Heimatort Kandersteg BE keine eigene Post mehr, keinen Polizeiposten, kein Bahnhofbuffet, keine Metzgerei. «Wenn man bei der Grundversorgung der Menschen spart, dann kommt es nicht gut», ist Ogi überzeugt. «Wenn sich Teile der Bevölkerung vernachlässigt fühlen, führt das zu Konflikten. Der Staat sollte hier das eine oder andere Zückerchen verteilen.»
Dabei propagiert der SVP-Politiker auch Rezepte, die eher zu einem Sozialdemokraten passen würden: «Es gibt Bereiche, die etwas kosten dürfen, im Interesse des Gemeinwohls in diesem Land.» Eine Postfiliale oder ein Schalter am Bahnhof, zählt er auf. Das sei eine Form von Politik, die der Bürger direkt spüre. «Fehlt etwas, schüttelt er den Kopf. Das sollten auch die Bürgerlichen begreifen. Wir vermögen es ja, wie wir uns auch die Kohäsionsmilliarde an die EU leisten können.»
«Da fehlte das politische Gespür»
Gleichzeitig bedauert Ogi das Vorgehen des Bundesrats gegenüber Brüssel: «Ein Abbruch nach so langem Hinhalten der EU – ohne dass das Parlament und das Volk mitbestimmen konnten!» Gleichzeitig habe die Regierung keinen Plan, wie es weitergehen könnte. «Auch meine Partei hat mich enttäuscht: Sie sagt doch sonst immer, das Volk habe das letzte Wort! Die Europafrage lässt sich nicht einfach aussitzen.» Gleichzeitig habe man die Franzosen, die nun dem EU-Rat vorsitzen, mit dem Kampfjet-Entscheid unnötig verärgert. «Da fehlte das politische Gespür.»
Ogi ist von seinen altbewährten Rezepten überzeugt: Es braucht Wärme und Ambiance, um erfolgreich zu politisieren. So müsse man sich eben um EU-Kommissar Maros Sefcovic bemühen, ihn mal für einen Zweitäger in die Schweiz einladen. «Sie müssen Spuren hinterlassen, wenn Sie die Chance haben, jemanden zu treffen.»
Ogi erinnert an ein Treffen mit Bill und Hillary Clinton im Weissen Haus. Als er nach dem Nachtessen habe gehen wollen, habe ihn der US-Präsident am Arm gepackt: «Dolfi, stay!» Erst um vier Uhr sei er zurück im Hotel gewesen. Ab da habe er bei Bedarf mit Clinton direkt telefonieren können. «Solche Kontakte fehlen uns heute», findet Ogi. «In dieser Nacht habe ich mich im Interesse der Schweiz etwas betrunken.» (dba)