Bei Marc Bühlmann (53) fällt eines sofort auf: Seine Turnschuhe haben zwei Farben. Der eine ist rot, der andere blau. «Damit bin ich politisch ziemlich neutral», sagt der Politologe an der Universität Bern schmunzelnd.
Die Schweizer Regierung hat sich verrechnet: Die künftigen AHV-Ausgaben fallen vier Milliarden Franken tiefer aus als prognostiziert. Marc Bühlmann, ist das ein Fiasko für die Demokratie?
Es ist – wenn überhaupt – ein Fiasko für die Verwaltung, nicht für die Demokratie. Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Das ist normal.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Ein Fehler von vier Milliarden!
In die AHV fliessen extrem viele Mittel, darum ist die Zahl so hoch. Ganz genau wissen wir ja noch nicht, wie es zum Rechenfehler kam. Die Rede ist von zwei Formeln, die falsch waren. Meine Frage ist: Haben die Verantwortlichen falsche Annahmen gemacht, die sie in eine Formel übersetzt haben? Oder war es einfach ein Tippfehler? In der Wissenschaft ist der erste Fall häufig – gerade wenn die Prognosen weit in die Zukunft gehen. Etwa jene zum Waldsterben in den 80ern. Damals hiess es, dass wir heute keinen Wald mehr haben. Heute spricht niemand mehr davon.
Dann bräuchte es Prognosen gar nicht?
Doch! Aber die Leute machen häufig den Denkfehler, Prognosen als Fakten anzusehen.
Allerdings werden die Prognosen jeweils mit absoluter Überzeugung gedruckt. Müssten diese im Abstimmungsbüchlein besser als solche gekennzeichnet werden?
Ich denke, interessierte Bürgerinnen und Bürger wissen, dass es sich bei den Zahlen im Abstimmungsbüchlein nicht um Fakten handelt. Da braucht es doch keine Notiz: Achtung, unsicher! Vielleicht können wir aufgrund des Fehlers lernen, wieder ein wenig misstrauischer zu werden.
Wäre es nicht einfacher, mit Bandbreiten und Szenarien zu arbeiten?
Wir arbeiten ja auch im Alltag oft mit Bandbreiten im Kopf. Darum fällen wir auch nicht sofort einen absoluten Ja- oder Nein-Entscheid. Wichtig scheint mir, zu wissen, dass wir zuerst aus dem Bauch heraus entscheiden. Im Kopf suchen wir dann lediglich noch Bestätigung für dieses Bauchgefühl. Das ist in der Politik nicht anders. Zu behaupten, die Leute hätten beim Rentenalter der Frauen anders abgestimmt, ist heikel. Der Kontext hat sich in der Zwischenzeit verändert. Es ist zwar gut möglich, dass der Entscheid heute anders herauskommen würde – aber eben eher nicht aufgrund anderer Fakten, sondern auch aufgrund veränderter Bauchgefühle.
Die AHV-Rechenpanne ist aber nicht der erste Statistik-Flop des Bundes. Im letzten Herbst wurde die Parteienstärke falsch berechnet, 2016 wurde bei der Heiratsstrafe die Zahl der profitierenden Doppelverdiener-Ehepaare zu tief angegeben. Irgendwann erodiert doch das Vertrauen!
Nicht, wenn die Behörden die Fehler erkennen und transparent machen. Die Berechnungen, die als Grundlage für Volks-, Parlaments- und Verwaltungsentscheide dienen, sind extrem komplex. Ich behaupte, dass mehr als die Hälfte aller Prognosen falsch sind. Nicht wegen Rechenfehlern, sondern weil die Materie eben derart komplex ist. Politik ist ein Tanker, der durch den Nebel fährt – wir wissen nicht, ob da ein Eisberg kommt. Wenn man aber herausfindet, dass etwas schieflief, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass Kontrolle funktioniert. Kontrolle als eine wichtige Art von Misstrauen kann eben das Vertrauen dann erhöhen. Bei der Parteienstärke musste das Bundesamt für Statistik viel Spott einstecken …
… von uns gabs damals einen Kaktus.
Die Behörden hätten den Fehler auch unter den Teppich kehren können. Doch sie waren transparent. Wann haben wir in der Schule am meisten gelernt? Wenn wir Fehler gemacht haben. Bei meinem Französischlehrer musste ich bei einem Fehler das Wort 25-mal niederschreiben, bei noch einem Fehler 50-mal. Ich werde «déjà» mein Leben lang nie mehr falsch schreiben (lacht). So läuft es auch in der Politik: Nach Fehlern versuchen die Behörden, die Verfahren zu verbessern. Darum hat Bundesrätin Elisabeth-Baume Schneider bei der AHV eine Untersuchung angeordnet.
Dennoch: Das Vertrauen in die Demokratie nimmt auch in der Schweiz ab.
Ja, aber diese Abnahme schwankt über mehrere Jahre auf sehr hohem Niveau zwischen 80 und 75 Prozent. Mit anderen Worten heisst das: Nur 25 Prozent sind misstrauisch. Für eine Demokratie sind das eigentlich zu wenige.
Aber kann es nicht auch zu viel Misstrauen sein – Stichwort Corona-Skeptiker?
Das Zusammenspiel zwischen Misstrauen und Kontrolle ist in der Schweiz sehr gut institutionalisiert. Wenn jemand ein Referendum oder eine Initiative wie die umstrittene Minarettinitiative lanciert, müssen die Behörden und die Parlamentarierinnen und Parlamentarier hinstehen und Argumente aufzeigen. Das ist zwar unangenehm, aber viel gesünder, als gar nicht darüber zu diskutieren. Misstrauen – egal welche Minderheit dieses ausspricht – wird so aber auch institutionell respektiert. Das führt langfristig zu friedlicheren Verhältnissen.
Schon im September müssen wir mit der Pensionskassenreform wieder über eine komplexe Vorlage abstimmen. Beeinflusst der AHV-Rechenfehler diese Abstimmung?
Selbstverständlich. Allerdings nicht unbedingt das Stimmverhalten. Meistens hat eine Person bereits eine Meinung zum Thema. Da muss schon viel passieren, damit sie umschwenkt. Bei der BVG-Reform geht es wohl mehr um die Mobilisierung. Das Nein-Lager ist da vielleicht momentan etwas im Vorteil, weil es jetzt natürlich sagen kann: Den Berechnungen des Bundes kann man nicht trauen, deshalb sollten wir den Status quo verteidigen.
Die «NZZ am Sonntag» stellt nun auch die Prognosen zum Autobahnausbau infrage. Da überlegt man sich schon: Was können wir noch glauben?
Glauben tut man in der Kirche. Klar hätten wir Menschen es gern, dass etwas ganz klar richtig oder falsch ist. Doch alle Lösungen sind immer provisorisch. Schauen Sie die Argumente der Gegner bei der ersten Abstimmung zum Frauenstimmrecht 1959 an: Da hiess es, die Frauen sind zu zart besaitet, wir müssen sie vor der Politik schützen. Und die Vorlage wurde abgelehnt.
Unglaublich!
Damals war das die vorherrschende «Wahrheit». Wir haben auch heute Normen, über die in 50 Jahren wohl der Kopf geschüttelt wird. Darum sollten wir in der Politik nie einfach sagen: So ist es.