Der neue österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer (49) ist am Montag zu seiner ersten bilateralen Reise aufgebrochen: in die Schweiz, wo er in Zofingen AG Bundespräsident Ignazio Cassis (60) und Justizministerin Karin Keller-Sutter (58) getroffen hat. Danach brachte ihn der Konvoi aus acht Fahrzeugen zur Blick-Redaktion in Zürich zum Interview.
Blick: Herr Bundeskanzler, warum führt Sie Ihre erste bilaterale Auslandsreise in die Schweiz?
Karl Nehammer: Wir sind historisch stark miteinander verbunden und befreundet. Darüber hinaus hätte ich Anfang Januar ein Treffen mit Bundespräsident Cassis in Wien gehabt, auf das ich mich sehr freute. Doch dann war ich in Quarantäne. Auch hier hat uns das Coronavirus einen Strich durch die Rechnung gemacht! So habe ich mit ihm einen Besuch in der Schweiz vereinbart, sobald es geht.
Was haben Sie mit Bundespräsident Cassis und Justizministerin Keller-Sutter besprochen?
Unsere ausgezeichneten bilateralen Beziehungen, die verfahrene Situation mit der Europäischen Union und wie wir die Schweiz unterstützen können.
Im Moment spürt die Schweiz vor allem Nadelstiche, etwa mit dem Ausschluss von Forschungsprojekten. Geht man so mit Freunden um?
Man kann unterschiedliche Meinungen haben, doch eine «Nadelstichpolitik» halte ich für kein geeignetes Mittel. Zudem ist es falsch, den Konflikt um die Niederlassungsfreiheit mit der Forschungszusammenarbeit zu verknüpfen. Das hat nichts miteinander zu tun, wir schaden uns selber: Die Schweiz ist ein bedeutender Wissenschafts- und Innovationsstandort. Diese Kooperation darf nicht wegen politischen Differenzen leiden.
Was wäre der bessere Weg als Nadelstiche?
Es ist wichtig, dass die EU auf Besonderheiten von EU-Mitgliedern und auch von wichtigen Partnern wie der Schweiz eingeht. Was hat man von einem Rahmenabkommen, das man auf politischer Ebene definiert, das dann aber bei der Volksabstimmung durchfällt? Da wäre es klug, auf die Bedenken der Schweizer Regierung zu hören und nachzujustieren, wo es notwendig und möglich ist.
Wer muss sich jetzt wie bewegen?
Beide aufeinander zu. Die Kommission muss zuhören und verstehen, warum das Rahmenabkommen für die Schweiz in einzelnen Punkten schwierig ist. Und die Schweiz muss verstehen, dass die EU eine Kombination von 27 Staaten ist, die alle auf nationale Interessen verzichtet haben, um miteinander die starke Europäische Union zu bilden. Ich bin überzeugt: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Österreich bietet sich hier gerne als Brückenbauer an.
Wie wollen Sie helfen?
Es braucht jetzt einen neuen Anschub für Gespräche, und Österreich wird seinen Einfluss in der EU nutzen, um hier einen Beitrag zu leisten. Die Schweiz liegt geostrategisch in der Mitte Europas. Es ist für uns wichtig, dass wir miteinander Probleme lösen können. Die Schweiz ist überdies ein ganz wichtiger Freund Österreichs, unser drittwichtigster Handelspartner und Österreich ist auch ein starker Freund der Schweiz.
Wieso hat sich die EU plötzlich derart in die Schweiz festgebissen, wo doch das Verhältnis bisher gut war?
Ein Konflikt unterliegt immer einer Eigendynamik. Es ist wichtig, aus dieser Spirale auszubrechen. Zudem ist es gut, den Prozess nochmals zu analysieren und von vorne zu beginnen. Die Schweiz hat ja nicht mutwillig die Gespräche abgebrochen, sondern weil das Rahmenabkommen in einer Volksabstimmung gefährdet gewesen wäre.
Karl Nehammer (49) ist seit 6. Dezember 2021 österreichischer Bundeskanzler und Chef der Koalition aus ÖVP und Grünen. In der Regierung von Sebastian Kurz (35) war Nehammer Innenminister, zuvor ÖVP-Generalsekretär und Abgeordneter. Der passionierte Boxer ist in Wien aufgewachsen, war Oberleutnant beim Bundesheer und Trainer für strategische Kommunikation. Er ist mit der Tochter von Ex-Moderator Peter Nidetzky («Aktenzeichen XY ... ungelöst») verheiratet, das Paar hat einen Sohn (13) und eine Tochter (11).
Karl Nehammer (49) ist seit 6. Dezember 2021 österreichischer Bundeskanzler und Chef der Koalition aus ÖVP und Grünen. In der Regierung von Sebastian Kurz (35) war Nehammer Innenminister, zuvor ÖVP-Generalsekretär und Abgeordneter. Der passionierte Boxer ist in Wien aufgewachsen, war Oberleutnant beim Bundesheer und Trainer für strategische Kommunikation. Er ist mit der Tochter von Ex-Moderator Peter Nidetzky («Aktenzeichen XY ... ungelöst») verheiratet, das Paar hat einen Sohn (13) und eine Tochter (11).
Die ARD-Tagesschau nannte Sie «Österreichs ungeplanten Kanzler», weil niemand mit dem jähen politischen Ende von Sebastian Kurz gerechnet hatte. Wie war es für Sie, als Sie vor zwei Monaten Knall auf Fall Regierungschef wurden?
Es fühlt sich nach wie vor surreal an. Es ist eine grosse Ehre, Bundeskanzler der Republik Österreich sein zu dürfen. Ich habe ein starkes Team und die grosse Unterstützung meiner Familie, besonders von meiner Frau.
Hatten Sie einfach Glück, weil Sie zwar Teil der Regierung Kurz waren, aber nicht Teil des Skandals?
Die Entwicklung war auch für mich massiv überraschend. Sebastian Kurz hat die Volkspartei nachhaltig und sehr positiv gestaltet. Wir haben die Wahlen deshalb gewonnen, weil wir wieder eine echte Volkspartei geworden sind. Jetzt müssen wir nach vorne blicken und uns nicht im politischen Kleinklein verlieren. Es wird gerade sehr viel skandalisiert, dabei bräuchte es mehr Unaufgeregtheit: Unabhängige Gerichte werden über die Handlungen entscheiden.
Haben Sie noch Kontakt mit Sebastian Kurz?
Selbstverständlich, wir halten freundschaftlichen Kontakt.
Wie geht es ihm?
Sehr gut, er ist schon ganz in seinem neuen Leben in der Privatwirtschaft angekommen und kann sich wieder mehr der Familie widmen, weil er mehr Zeit hat.
Wie hat sich Ihr eigenes Leben verändert?
Es ist turbulent geworden! Auch als Innenminister war ich durch die Terroranschläge und die Corona-Pandemie viel in der Öffentlichkeit. Als Bundeskanzler ist dies noch viel ausgeprägter: Bei meiner Corona-Infektion war ich zum ersten Mal in meinem Leben öffentlich krank. Jeder interessierte für mein ct-Wert ist. Das ist keine angenehme Erfahrung. Aber es gehört dazu.
Sie waren Berufsoffizier. Was haben Sie in der Armee gelernt für Ihr Amt als Regierungschef?
Disziplin. Seine eigenen Grenzen zu erkennen, um darüber hinaus zu wachsen. Dass es Kameradschaft braucht. Und zu sehen, wie sich andere in Drucksituationen verhalten und wie ich mich selber verhalte. Das alles waren sehr wichtige Erfahrungen.
Österreich hatte seit 2017 fünf Kanzler, das sind schon fast italienische Verhältnisse. Wie wollen Sie wieder für Stabilität sorgen?
Durch harte und redliche Arbeit. Ich will die Anliegen der Menschen ernst nehmen. Sie wollen jetzt wissen, wie es mit den einschränkenden Massnahmen weitergeht, wie es um den Arbeitsplatz steht, etc.
Ihre ÖVP ist eine konservative Partei. Kann die Koalition mit den Grünen auf Dauer funktionieren?
Wir sind bereits seit zwei Jahren in dieser Koalition, und die waren geprägt von der grössten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben gemeinsam viele wichtige Beschlüsse gefällt: Österreich hat 42 Milliarden Euro für Kurzarbeit und Wirtschaftshilfen ausbezahlt. Wir hatten letztes Jahr ein Wirtschaftswachstum von über 4 Prozent, die Arbeitslosigkeit liegt auf Vorkrisenniveau.
Trotzdem ist die Stimmung nicht gut.
Die Menschen haben die Pandemie jetzt einfach satt. Die Einschränkungen sind mühsam, das trägt zur gedrückten Stimmung bei.
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Österreich hat als erstes Land Europas eine Impfpflicht eingeführt. Ist das nicht ein völlig übertriebener Eingriff in die Privatsphäre?
Ja, es ist ein massiver Eingriff. Er ist notwendig geworden, weil das Virus schon zu lange unsere Freiheit beschränkt. In der Geschichte gab es schon immer Impfpflichten, um brutale Seuchen zurückzudrängen. Wenn wir an die Entwicklung der letzten zwei Jahre zurückdenken, an die viel zu vielen Toten, an die mehrfachen Lockdowns: Dann ist diese massive Massnahme gerechtfertigt. Gleichzeitig wird sie ständig von einer Kommission hinterfragt, ob sie noch notwendig ist.
Die Virologen werden mit Ja antworten.
Die Kommission ist unabhängig und breit zusammengesetzt.
Omikron sorgt für milde Verläufe. Kommt die Impfpflicht, wenn schon, nicht viel zu spät?
Die Impfpflicht ist nicht für die Omikron-Variante geschaffen worden, sondern gegen das Coronavirus an sich. Niemand weiss, ob die Mutationen jetzt wirklich immer milder werden oder ob es im Herbst nicht doch wieder eine gefährliche Delta-Variante gibt. Doch selbst heute liegen auf den Intensivstationen in Österreich ungeimpfte Menschen. Alle Expertinnen und Experten sagen, dass die Impfung die grösstmögliche Chance bietet, um nicht ins Spital oder auf die Intensivstation zu kommen.
Glauben Sie wirklich, dass sich ein eingefleischter Impfgegner jetzt impfen lässt und nicht einfach die Busse zahlt?
Es mag möglich sein, sich allem zu widersetzen. Aber ich finde es nicht gescheit! Es geht um Eigenverantwortung und darum, dass sich in einer solidarischen Gesellschaft jeder überlegt, wie er mit seinem Gegenüber umgeht.
Gleichzeitig wollen Sie die Spaltung der Gesellschaft verhindern. Die Impfpflicht aber verstärkt die Spaltung.
Leider ging die Unterscheidung von Ursache und Wirkung verloren: Der Feind der Freiheit ist das Virus – und nicht die Politik! Wir sollten nicht Ungeimpfte gegen Geimpfte ausspielen, sondern gemeinsam gegen das Virus kämpfen. Österreich hat eine Impfquote von 70 Prozent. Der überwiegende Teil hat sich für das Impfen entschieden. Jetzt ist es wichtig, die restlichen zu überzeugen, das auch zu tun. Natürlich wäre auch mir am liebsten, es bräuchte dazu keine Impfpflicht!
Die zweite grosse Krise spielt sich vor Ihrer Haustüre ab: Von der ukrainischen zur österreichischen Grenze sind es Luftlinie keine 400 Kilometer. Wie gross ist die Kriegsgefahr?
Wir nehmen die Gefahr sehr ernst. Die militärischen Kapazitäten der russischen Föderation machen eine Invasion jederzeit möglich. Ganz Europa muss auf diplomatischem Weg alles unternehmen, um einen Krieg zu verhindern. Ich bin der Schweiz dankbar, dass hier immer wieder Gespräche stattfinden können. Gemeinsam appellieren wir als neutrale Staaten für Dialog und Deeskalation.
Die Krise hat zu einer seltenen Einigkeit innerhalb der EU geführt. Stärkt Putin Europa unfreiwillig?
Das ist möglich. Druck erzeugt Gegendruck. Die wirklich bindende Klammer ist, dass niemand Krieg will. Man spürt bei allen Regierungschefs der EU das wirkliche Bemühen um eine Lösung, die für beide Seiten gesichtswahrend ist.
Hatten Sie mit Präsident Putin Kontakt?
Wir haben uns auf europäischer Ebene darauf verständigt, Deutschland und Frankreich die Kontaktnahme zu überlassen, um mit einer Stimme zu sprechen. Ich habe als Bundeskanzler engen Kontakt mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten. Wir zeigen der Ukraine auf diese Weise, dass wir sie ernst nehmen.
Wie bereiten Sie Ihr Land auf den Worst Case und auf eine Flüchtlingswelle vor?
Tatsächlich müssten wir mit einer Flüchtlingswelle rechnen, wie wir bereits heute in Polen sehen, wo eine Million ukranische Flüchtlingen lebt. Wir bereiten verschiedene Szenarien vor, zur Wirtschaftskrise, zu den Gaslieferungen, zu den Sanktionen, etc. Unsere nach aussen gerichtete Kraft geht jetzt aber voll auf Verhandlungen und Brückenbauen.