Die Schweiz tickt anders. Die Staatsverschuldung hat in den letzten beiden Jahrzehnten nicht wie ringsherum zu-, sondern abgenommen – wenn man von den Sonderschulden wegen Corona absieht. Durch die 30-Milliarden-Hilfe sind die Bundesschulden auf 142 Milliarden Franken gestiegen, was knapp 18 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes entspricht.
In der Staatsschuldenquote der OECD, in der auch die Verbindlichkeiten der Kantone und die Pensionsverpflichtungen gegenüber Staatsangestellten berücksichtigt sind, beträgt die Verschuldung 38 Prozent des BIP. Das ist eine der niedrigsten Quoten in den Industrieländern.
Dem Zinsanstieg sehen der Bund und die Kantone entspannt entgegen. Sie können derzeit auch für zehn Jahre und mehr zu unter 1 Prozent Zins Geld aufnehmen. In der Eurozone bezahlen die Staaten zwischen 2 und 4 Prozent. Letztes Jahr kostete Bern der Schuldendienst 1,25 Milliarden. Zum Vergleich: Italien muss mit Zinskosten von 100 Milliarden Euro rechnen.
Resultat der strengen Schuldenregeln
Die niedrige und rückläufige Verschuldung, die diese attraktiven Finanzierungsbedingungen ermöglicht, verdankt die Schweiz der 2003 auf Bundesebene eingeführten Schuldenbremse. Das belegt eine Studie der Universität Luzern. Gemäss Schätzung von Professor Christoph Schaltegger, der an der Studie mitgearbeitet hat, lägen die Bundesschulden ohne Schuldenbremse heute bei mehr als 400 statt bei 140 Milliarden Franken.
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Deswegen gilt die Schuldenbremse als heilige Kuh, Kritik an ihr gilt schon fast als Landesverrat. Zwei, die es dennoch wagen, sind der Genfer Professor Cédric Tille und sein Lausanner Kollege Marius Brülhart. Beide sind grundsätzlich grosse Befürworter der Schuldenbremse, sie hinterfragen aber deren restriktive Auslegung. «Es ist die strengste der Welt», sagt Brülhart. Sie verlangt, dass die Schulden des Bundes über die Zeit in Franken konstant bleibt. «Überschüsse müssen für den Schuldenabbau eingesetzt werden.»
Ökonomen liebäugeln mit Justierung
Das zeigt sich am Beispiel der Corona-Extraschulden: Sie müssen bis 2035 zurückbezahlt werden, obwohl man in den Jahren zuvor Überschüsse erzielt hatte, die man nun aber nicht einmal teilweise dagegen verrechnen will. «Der Abbau kann nicht mit dem Aufbau verrechnet werden, das ist ökonomisch schwer zu rechtfertigen», sagt Brülhart.
Da das BIP im Nenner wächst, läuft die so konzipierte Schuldenbremse laut Brülhart darauf hinaus, dass die Schuldenquote auf null oder ins Minus sinkt. «Und ich kenne keine Studien oder Modelle, die das als optimal darstellen.»
Der Vorschlag von Tilles, die Schuldenbremse an der Verschuldungsquote auszurichten statt am Betrag in Franken, ist für Brülhart eine Überlegung wert. Schliesslich müsse der Staat auch für ein gewisses Angebot an Staatsanleihen sorgen. «Der Markt lechzt nach sicheren Bundesanleihen, vor allem inländische institutionelle Anleger sind darauf angewiesen.» Und es gebe Ereignisse und Krisen, da sei es sinnvoll, Anleihen zu geben, um Nothilfe zu finanzieren.
Mit solchen Argumenten kann Schaltegger nichts anfangen und kontert: «Die Schweiz ist so ein kleiner Player. Die globalen Finanzmärkte funktionieren auch ohne Schweizer Bundesanleihen.» Von den Reformvorschlägen hält er nichts. «Dahinter steckt die Idee, dass der Zins kleiner ist als das Wirtschaftswachstum. Aber manchmal ist es umgekehrt.»
Schaltegger äussert auch technische Bedenken: Die Berechnung wäre von der Schätzung des Potenzialwachstums abhängig und mit zusätzlicher Unsicherheit behaftet. Ausserdem führe die Ausrichtung an eine fixe Quote zu einer mechanischen Ausdehnung des Staates, da es jedes Jahr automatisch etwas mehr zum Ausgeben gebe.
Nur die Spitze des Eisberges
Schaltegger warnt auch davor, beim Thema Staatsverschuldung die impliziten Schulden auszublenden: Das sind die Verbindlichkeiten, die nicht in der amtlichen Schuldenstatistik als Anleihen und Kredite erfasst werden, in erster Linie die Verpflichtungen gegenüber der Altersvorsorge. Die Schweiz ist bei dieser Betrachtung auf einmal nicht mehr Musterschülerin, sondern mit Pensionsverpflichtungen von über 200 Prozent des BIP im Mittelfeld.
«Diese impliziten Schulden gehören zur gesamtheitlichen Betrachtung dazu», findet Schaltegger. Denn es handle sich um die latente Steuerlast von morgen. Sie zeigten, welcher Druck auf der Politik laste. Die Last nimmt nur ab, wenn harte Entscheidungen getroffen und die Versprechen gekürzt werden. Doch das werde schwierig: «Der Medianwähler ist über 56 Jahre alt, er interessiert sich vor allem für die Auszahlung.»
Gegen die implizite Schuldenlast hilft auch die Schuldenbremse nicht. Gesunde Finanzen geben aber immerhin etwas Spielraum, um bei schmerzhaften Reformen der Altersvorsorge die Folgen etwas abzufedern.