Es war eine Demütigung sondergleichen. Während sich Aussenminister Ignazio Cassis (60) am Freitag in Lugano TI mit seinen Amtskollegen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg und Liechtenstein traf, teilte Bundesratssprecher André Simonazzi via Twitter mit: Nicht Cassis, sondern Bundespräsident Guy Parmelin (61) werde nach Brüssel reisen, um mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (62) über das Rahmenabkommen zu verhandeln.
Cassis, der vom Gegenteil ausgegangen war, musste eine Stunde später vor die Medien treten – die Pressekonferenz war Tage zuvor angesagt worden – und Stellung dazu nehmen, übergangen worden zu sein.
Auch wenn die Wahl auf Parmelin fiel, weil das Treffen mit von der Leyen ein Meeting auf Präsidialebene ist: Man hätte mit der Ankündigung noch zwei Stunden warten und Cassis die öffentliche Schmach ersparen können.
Eine beispielhafte Anekdote
Die Anekdote wäre kaum der Rede wert, stünde sie nicht beispielhaft dafür, was gerade passiert: Der Aussenminister wird im Regen stehen gelassen. Von nahezu allen. Woran er nicht unschuldig ist, glaubt man zahlreichen Schilderungen.
Aus der Wirtschaft etwa: Unternehmenschefs kämen «fassungslos» aus Treffen mit Cassis. Dieser wirke planlos, mache nie klare Aussagen und wechsle ständig die Meinung. Wie er tatsächlich zum Rahmenabkommen steht, weiss niemand. Meint er überhaupt, es brauche eines? Ist er überzeugt von dem, was auf dem Tisch liegt? Oder sieht er es kritisch wie die anderen Bundesratsmitglieder? Cassis lässt alle rätseln.
Nur noch eine Handvoll Verbündeter
Auch in der eigenen Bundeshausfraktion hält nur noch eine Handvoll zum Tessiner. Die anderen sind «recht hässig», wie es ein Freisinniger ausdrückt. Jahrelang habe man sich – besonders beim Rahmenabkommen – schützend vor den eigenen Bundesrat gestellt.
Kritik am Verhandlungsergebnis kommt aus der Partei erst seit dem Herbst. Seit da aber verstärkt: Von alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann (69) sowie den Ständeräten Andrea Caroni (41), Martin Schmid (51) und Thierry Burkart (45). Auch weil Cassis es versäumt hat, die FDP in seine Pläne einzuweihen.
Die grosse Konkurrentin
Anders Karin Keller-Sutter (57). Die freisinnige Justizministerin hält das Rahmenabkommen in der jetzigen Form für nicht mehrheitsfähig – und sagt das offen. Was Cassis möglicherweise als Angriff versteht. Die Beziehung zwischen den beiden ist jedenfalls frostig.
Auch, weil einer von ihnen in zwei Jahren aus dem Bundesrat fliegen könnte – wenn die grünen Parteien weiterhin zulegen und die FDP noch mehr verliert. Das hat zu einer Konkurrenz-Situation zwischen Keller-Sutter und Cassis geführt, die sich in Gifteleien äussert, aber auch in Gerüchten, die vom jeweiligen Umfeld gestreut werden sollen.
Sogar Gössi musste sich einschalten
Das Hauen und Stechen führte gar zu einer Intervention der Parteispitze um Petra Gössi (45). Wie Blick weiss, nahm sich die FDP-Chefin die Streithähne zur Brust: Mit solchem Verhalten würden sie zur Hypothek für die gesamte Partei und erhöhten das Risiko, tatsächlich einen Sitz zu verlieren. Worauf sich das Verhältnis etwas verbesserte, meinen Beobachter.
Bis vor einigen Tagen. Die Nervosität rund ums Rahmenabkommen führt nun wieder zu gesteigerter Aggressivität. Keller-Sutter soll Cassis im Regen stehen lassen – gerade beim umstrittensten Punkt des Rahmenabkommens, der Unionsbürgerrichtlinie.
Dabei geht es um die Zuwanderung aus der EU und somit um ein Dossier der Justizministerin. Diese mache aber weder Vorschläge noch Zugeständnisse. «Da geht es auch um Machtspiele», sagt eine involvierte Person. «Das Scheitern soll Cassis in die Schuhe geschoben, der eigene Sitz gesichert werden auf Kosten des Gesamtinteresses.»
Gerüchteküche brodelt
Letzte Woche machte in Bern das Gerücht die Runde, Keller-Sutter habe in der Bundesratssitzung den Antrag gestellt, das Treffen mit Brüssel sausen zu lassen und von der Leyen telefonisch abzusagen. Gestreut wurde die (falsche) Information von Cassis' Umfeld – was viele schnell rausfanden und was dem ohnehin angekratzten Vertrauen in den Aussenminister und seine Entourage noch mehr schadete. Das EDA weist diese Darstellung zurück.
Hinzu kommen handwerkliche Fehler, die Cassis vorgehalten werden. So bei seinem Plan B für den Fall, dass das Rahmenabkommen bachab geht: Letzte Woche schlug er erneut eine Aufdatierung des Freihandelsabkommens von 1972 vor – obwohl der Bundesrat dies bereits abgelehnt und ihn beauftragt hatte, eine andere Lösung zu suchen. Als Cassis wieder mit dieser Idee kam, war das Erstaunen bei den anderen Departmentsvorstehern gross. «Was genau hast du beim letzten Mal nicht verstanden?», sei die einhellige Reaktion gewesen.
«Keine Ahnung, unter welcher Glocke er lebt»
Mittlerweile bringe Cassis kein Geschäft mehr durch im Bundesrat, wird kolportiert. Und er kapsle sich umso mehr ab. Nie würde er informelle Vorgespräche mit anderen Bundesräten führen, um Allianzen zu schmieden. «Keine Ahnung, unter welcher Glocke er lebt», sagt eine ihm einst nahestehende Person.
Mit all dem hat Cassis es den anderen Bundesräten leicht gemacht, ihn zum Sündenbock zu stempeln für die verfahrene Lage mit Europa. Dabei geht allzu leicht vergessen, dass Cassis das Rahmenabkommen erstens von seinen Vorgängern geerbt hat. Und zweitens, dass es der Gesamtbundesrat ist, der die Verantwortung für das Scheitern oder Gelingen trägt.
Und drittens, dass so ziemlich jeder Departementschef Dossiers hat, die von einem Rahmenabkommen profitieren würden – Wirtschafts- und Forschungsminister Parmelin ebenso wie Finanzminister Ueli Maurer (70) und Strom-Ministerin Simonetta Sommaruga (60). Nachdem die Landesregierung jahrelang in wechselnder Konstellation mit Brüssel verhandelt hat, jetzt bloss Cassis aussen vor zu lassen und mit dem Finger auf ihn zu zeigen, ist zu einfach. Scheitert das Abkommen, so scheitert der Gesamtbundesrat.