Cassis allein zu Haus
FDP-Bundesrat völlig isoliert

In der Regierung schlägt Aussenminister Cassis viel Skepsis entgegen. An seiner Stelle reist nun Bundespräsident Parmelin nach Brüssel.
Publiziert: 18.04.2021 um 00:50 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2021 um 22:07 Uhr
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Vor einer Woche gab sich Aussenminister Ignazio Cassis noch sicher: Er würde nach Brüssel reisen, um mit der EU-Kommissionspräsidentin zu sprechen.
Foto: AFP
Simon Marti und Camilla Alabor

Vor einer Woche war der Leiter des Aussendepartements noch guten Mutes. Ignazio Cassis (60) ging davon aus, dass er beim Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (62) mit von der Partie sein würde, der letzten Gelegenheit zur Rettung des Rahmenabkommens. «Kein anderer Bundesrat kennt das Dossier so gut wie ich», sagte der Tessiner Liberale zu SonntagsBlick. Seine Botschaft: Die Mission ist schwierig, aber nicht unmöglich. Und: Für die weiteren Verhandlungen mit der EU bin ich zuständig.

Unklar wer die Schweiz vertreten soll

Spätestens am Mittwoch muss Cassis klar geworden sein, dass ihm die Dinge zusehends entgleiten.

In der wöchentlichen Sitzung des Bundesrats sorgte nicht die Lockerung der Corona-Massnahmen für die meisten Diskussionen. Nein, es war das Europa-Dossier, das die Regierung stundenlang beschäftigte.

So uneinig waren sich die Magistraten, dass der Bundesratssprecher zwei Stunden später vor die Medien trat als gewöhnlich. Und dennoch keine Antwort auf die Frage geben konnte, wer die Schweiz am 23. April in Brüssel vertreten soll. André Simonazzi (53) vermochte nicht einmal zu sagen, ob am Freitag überhaupt ein Regierungsmitglied nach Brüssel reist.

Von Cassis’ Teilnahme ganz zu schweigen.

Bundesrat versenkt Cassis’ Plan B

Gespräche mit Informanten aus dem Umfeld der Landesregierung offenbaren: Die Mittwochsitzung war für Cassis ein Debakel. Erneut schlug er Alternativen zum Rahmenabkommen vor – für den Fall, dass mit Brüssel keine Einigung mehr zustande kommt. Und erneut präsentierte er als möglichen Ausweg eine Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972, eine Variante, die der FDP-Politiker bereits vor zwei Wochen aus dem Hut gezaubert hatte (SonntagsBlick berichtete).

Beide Male wollte die Landesregierung nichts davon wissen: Mit sechs zu einer Stimme versenkte der Bundesrat am Mittwoch Cassis’ Plan B endgültig, wie die «Schweiz am Wochenende» schreibt.

Ganzes Departement sei eine Baustelle

Dass der freisinnige Bundesrat innert kurzer Zeit zweimal den gleichen Vorschlag lancierte, kommt in den anderen Departementen schlecht an. Umso mehr, als manche vermuten, Cassis habe der EU eine mögliche Aktualisierung des Freihandelsabkommens vorgeschlagen – ohne zuvor die Meinung des Gesamtbundesrats einzuholen. Das Gerücht hält sich hartnäckig. Aus mehreren Departementen ist zu hören, dass man dem EDA und seinen Vorschlägen kaum mehr über den Weg traut.

«Cassis bereitet das Europa-Dossier schlecht vor; das ganze Departement ist eine Baustelle», kritisiert ein Spitzenbeamter. Doch just vor der entscheidenden Sitzung verschwinde der Aussenminister auf eine mehrtägige Reise in den Nahen Osten.

Keller-Sutter hat Finger im Spiel

Der Kritisierte verteidigt das Abkommen je länger, desto halbherziger. «Das Rahmenabkommen ist für die Schweiz wichtig, aber nicht überlebenswichtig», sagte er im Januar der «NZZ». Doch scheitert das Abkommen tatsächlich, wird es Cassis sein, der dafür geradestehen muss, nicht der Gesamtbundesrat.

Die Gspänli des Tessiners wissen das nur zu gut. Weil sie das Rahmenabkommen als chancenlos ansehen, versuchen sie, damit möglichst nicht in Verbindung gebracht zu werden. Eine Strategie, die auch Cassis’ Parteikollegin Karin Keller-Sutter (57) gewählt hat. Zwar gehört sie zusammen mit Cassis und Wirtschaftsminister Guy Parmelin (61) dem Europaausschuss des Bundesrats an, doch hält sich ihre Lust, den Bundespräsidenten nach Brüssel zu begleiten, in engen Grenzen.

Mehr noch: Im Aussendepartement wirft man der Sankt Gallerin vor, sie habe im Vorfeld der Bundesratssitzung Stimmung gegen Cassis gemacht und sogar den Sinn des Brüsseler Treffens infrage gestellt. All dies lasse deutlich erkennen, dass sie dem Abkommen keine Chance mehr gebe.

Angespannte Stimmung in der Europapolitik

Tatsächlich ist es gerade die Unionsbürgerrichtlinie, bei der die EU der Schweiz keinen Schritt entgegenkommt. Wenn sich Bern und Brüssel nicht handelseinig werden, so liegt dies in aller erster Linie eben an dieser Richtlinie, die allen EU-Bürgern in der Schweiz den Zugang zur Sozialhilfe ermöglichen soll. Diese Unionsbürgerrichtlinie fällt in die Zuständigkeit der Justizministerin.

Das Hickhack zwischen den beiden freisinnigen Departementen zeigt, wie angespannt die Stimmung in der Europapolitik derzeit ist. Wobei Cassis seine pointierten Aussagen vom vergangenen Sonntag bereuen dürfte, seit der Bundesrat am Freitag klargemacht hat, wer nach Brüssel reisen wird: Bundespräsident Guy Parmelin – und zwar allein. Viel deutlicher kann man einen Ratskollegen nicht desavouieren.

Jetzt muss der Bundespräsident ran

Damian Müller (36, LU), Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats und ebenfalls Freisinniger, zeigt sich vom Vorgehen der Regierung ernüchtert: «Der Bundesrat entscheidet ad hoc, wen er nach Brüssel schickt, noch bevor er seine Verhandlungsstrategie definiert hat. Es ist offensichtlich, dass diese Landesregierung interne Schwierigkeiten hat, die einer Lösung in diesem absolut zentralen Dossier im Weg stehen.»

Was soll und kann Bundespräsident Parmelin in Brüssel denn nun erreichen? Am Montag will die Landesregierung über ihre Strategie beraten. Eine Möglichkeit ist gemäss dem «Tages-Anzeiger» das Angebot eines höheren Kohäsionsbeitrags oder die Vereinbarung weiterer Verhandlungen auf politischer Ebene.

Das wahrscheinlichste Szenario ist bundesratsnahen Quellen aber, dass Parmelin Ursula von der Leyen zu erklären versucht, die Schweiz könne dieses Abkommen nicht unterzeichnen. In der Hoffnung, trotz der Absage möglichst wenig Geschirr zu zerschlagen.

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