Bundesgericht ändert Praxis – Auslöser war Frau mit 150 Kilo und BMI 58
Wer stark übergewichtig ist, könnte jetzt IV-Rente bekommen

Übergewichtige könnten bald eine Invalidenrente erhalten: Das Bundesgericht ändert seine Rechtsprechung zu Adipositas. Was bedeutet der Entscheid nun?
Publiziert: 21.11.2024 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2024 um 12:57 Uhr
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Als adipös oder fettleibig werden Erwachsene bezeichnet, die einen Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30 aufweisen.
Foto: Jürgen Ritterbach

Auf einen Blick

  • Bundesgericht passt Rechtsprechung zu Adipositas an
  • Adipositas als chronische, komplexe Krankheit anerkannt
  • 31% der Schweizer übergewichtig, 12% adipös
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sven AltermattCo-Ressortleiter Politik

Es ist ein Urteil mit Signalwirkung: Wer stark übergewichtig ist, wird deswegen nicht mehr weitgehend von der Invalidenrente ausgeschlossen. Das Bundesgericht passt seine Rechtsprechung zu Adipositas an. Das gaben die höchstinstanzlichen Richter am Donnerstag bekannt. 

Bisher war klar: Starkes Übergewicht allein reichte nicht aus, um Anspruch auf eine IV-Rente zu haben. Es wurde als willentlich überwindbar eingestuft – sprich: Man ging davon aus, dass Adipositas-Betroffene ihr Übergewicht aus eigener Kraft bekämpfen können.

Eine IV-Rente gab es grundsätzlich nur dann, wenn Adipositas körperliche oder geistige Gesundheitsschäden verursachte oder die Folge von solchen Schäden bildete. Neu wird vom Bundesgericht anerkannt, dass Adipositas eine chronische, komplexe Krankheit ist.

Der Gerichtsentscheid bedeutet nicht, dass nun jeder stark Übergewichtige automatisch IV erhält. Aber ein Anspruch auf eine IV-Rente ist nicht mehr von vornherein ausgeschlossen, sofern die Krankheit die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. Die IV-Stellen müssen dem Urteil jetzt folgen.

Diäten sind zumutbar

Bereits vor fünf Jahren hatte das Bundesgericht entschieden: Eine Sucht kann rechtlich auch als Krankheit gelten – und den Betroffenen damit eine IV-Rente ermöglichen. «Es ist kein Grund ersichtlich, die bisherige Sonderrechtsprechung zu Adipositas aufrechtzuerhalten», schreibt das Bundesgericht jetzt.

Betroffene Personen müssen jedoch zumutbare Therapien wie Diäten, Bewegungsprogramme oder Verhaltenstherapien durchführen. Damit kämen sie ihrer «Schadenminderungspflicht» nach.

Es muss jeweils von Ärzten beurteilt werden, ob jemand wegen Adipositas nicht mehr arbeitsfähig ist. Die Rede ist von einem strukturieren Beweisverfahren.

Auslöser für den Grundsatzentscheid ist der Fall einer 150 Kilogramm schweren Frau mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 58. Die Frau ist 54 Jahre alt und stammt aus dem Aargau. Wegen ihrer Beschwerden kann sie kaum mehr gehen.

Fachleute sprechen in einem solchen Fall von Adipositas Grad III. Das Bundesgericht hat die Beschwerde der Frau teilweise gutgeheissen. Die zuständige IV-Stelle muss nun den Fall neu beurteilen und zusätzliche medizinische Abklärungen vornehmen.

Wie viele Personen vom Urteil betroffen sind und neu Anspruch auf eine IV-Rente haben, ist noch nicht bekannt. 

Mehr als jeder Zehnte ist adipös

Als adipös oder fettleibig gelten Erwachsene mit einem BMI über 30. Ein BMI zwischen 18,5 und 24,9 gilt als normalgewichtig, ab einem BMI von 25 als übergewichtig.

Im Jahr 2022 waren 31 Prozent der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren übergewichtig, 12 Prozent adipös. Dies geht aus einer am Donnerstag veröffentlichten Auswertung des Bundesamtes für Statistik hervor. Die Zahl der Adipositas-Fälle erhöhte sich in den letzten 30 Jahren von 5 Prozent im Jahr 1992 auf 12 Prozent im Jahr 2022. 

Männer sind häufiger von Übergewicht betroffen als Frauen. Adipöse und übergewichtige Personen litten häufiger an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes oder anderen chronischen Krankheiten als Normalgewichtige. Und adipöse Menschen sind der Auswertung zufolge auch häufiger von schweren Depressionssymptomen betroffen.

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