Bisher war die Sache klar: Eine Sucht allein reichte nicht aus, um Anspruch auf eine IV-Rente zu haben. Nur wenn eine Alkohol-, Drogen- oder Medikamentensucht zu einer Krankheit oder einem Unfall geführt hatte oder die Sucht die Folge einer Krankheit war, galt jemand als invalid im Sinne des IV-Gesetzes. Für die Sucht an sich war aus dieser Sicht die betroffene Person selbst verantwortlich.
Das ist künftig anders. Das Bundesgericht hat entschieden, seine Rechtssprechung zu ändern. Die Richter stützen sich bei dem Grundsatzentscheid auf die heute geltende medizinische Überzeugung, wonach es sich bei einer Sucht um eine Krankheit handelt. Die IV-Stellen müssen diesem Urteil jetzt folgen.
Jeder Einzelfall wird geprüft
Der Gerichtsentscheid bedeutet nicht, dass nun jeder Drogen- oder Alkoholsüchtige automatisch IV erhält. Wie bei anderen psychischen Störungen muss jeweils von Ärzten beurteilt werden, ob jemand wegen der Sucht nicht mehr arbeitsfähig ist. Zudem kann von einer oder einem Süchtigen verlangt werden, sich einer Behandlung zu unterziehen. Tut er das nicht, können die Leistungen gekürzt oder sogar gestrichen werden.
Auslöser für den Grundsatzentscheid ist der Fall eines medikamentensüchtigen und heroinabhängigen Mannes. Er hatte geklagt, weil ihm die IV-Rente verweigert wurde. Das Bundesgericht gab ihm nun Recht, dass er zumindest vorübergehend Anspruch auf Unterstützungsleistungen hat.
Wie viele Personen vom Urteil betroffen sind und neu Anspruch auf eine IV-Rente haben, ist unklar. Denn laut Astrid Jakob, Geschäftsleiterin der IV-Stellen-Konferenz, wird nicht erfasst, aus welchem Grund IV-Anträge abgelehnt werden. «Wir gehen aber davon aus, dass sich die Zahl der Anspruchsberechtigten nicht übermässig erhöhen wird.» Schliesslich werde nach wie vor jeder Fall sorgfältig geprüft.
«Entscheid ist überfällig»
Fachpersonen freuen sich über den Entscheid des Bundesgerichts. «Er ist überfällig», sagt Manuel Herrmann vom Fachverband Sucht. Denn medizinisch sei es unmöglich festzustellen, ob primär eine Sucht oder eine psychische Krankheit vorliegt, wie das bis jetzt gefordert wurde. «Die Realität ist viel komplexer.»
Mit dem Entscheid mache man zudem einen Schritt weg vom «Kässeli-Denken» zwischen Sozialhilfe und IV. «Der Mensch könnte neu stärker ins Zentrum rücken: Eine Person, die arbeiten kann und will, wird das in Zukunft trotz ihrer Suchterkrankung tun können und wird nicht mehr im Voraus einfach von der IV aussortiert.» Zudem müssten Betroffene nicht zuerst all ihr Erspartes aufbrauchen, um Sozialhilfe zu bekommen.
Damit trage man zur Entstigmatisierung von Personen mit einer Suchterkrankung bei, weil sie nun gleich behandelt werden wie Personen mit einer anderen psychischen oder physischen Erkrankung. Dieser Meinung ist auch die Stiftung Sucht Schweiz.
SVP-Nationalrätin siehts positiv
Ebenfalls begrüsst wird der Entscheid der obersten Richter von Seiten der Politik – und zwar von links bis rechts. «Es ist richtig, dass bei Suchtkranken in Zukunft wie bei anderen psychischen Krankheit nach klar definierten Kritierien geprüft wird, ob eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit vorliegt, die einen Rentenanspruch begründet», sagt die Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker (65). Denn es würde sehr vielfältige Gründe geben, warum jemand suchtkrank wird. «Gründe, die auch ausserhalb der betroffenen Person liegen können.» Schenker hat mehrere Jahre als Sozialarbeiterin an der Psychiatrischen Uniklinik in Basel gearbeitet und ist seit acht Jahren bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Basel-Stadt tätig. Sie hat immer wieder mit suchtkranken Menschen zu tun.
Selbst bei der SVP, die den IV-Gürtel sonst immer enger schnallen will, stösst die Praxisänderung auf offene Ohren. «Erste Priorität muss haben, dass die Betroffenen so schnell wie möglich wieder suchtfrei werden», sagt die Berner Nationalrätin Andrea Geissbühler (43). «Zu einer Therapie kann man niemanden zwingen. Aber wenn der Rentenanspruch nun an die Bedingung geknüpft werden kann, eine Therapie zu machen, kann das für Betroffene eine Motivation sein.»