Auf einen Blick
Stark übergewichtige Schweizerinnen und Schweizer nutzten neue Medikamente zur Gewichtsreduktion im Ländervergleich besonders häufig – bisher waren es Erwachsene und Teenager. Eine aktuelle Studie belegt nun die Wirksamkeit des Wirkstoffes Liraglutid (Saxenda) bei Kindern ab sechs Jahren. Experten gehen davon aus, dass die USA das Medikament bald für diese Altersgruppe zulassen.
Dagmar l'Allemand (66) behandelt Kinder mit Übergewicht und ist Co-Präsidentin des Fachverbandes Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Abnehmspritzen für Kinder sind in den USA sinnvoller als in der Schweiz, sagt sie im Interview mit Blick.
Frau l'Allemand, was halten Sie von Abnehmspritzen für Kinder?
Ich stehe dem aus Schweizer Sicht kritisch gegenüber. Unsere Situation ist im Vergleich zu anderen Ländern viel besser.
Inwiefern?
In der Schweiz ist es für Kinder relativ einfach, eine Gewichtsreduktion mithilfe Bewegung und gesunder Ernährung zu erreichen. Sie können zum Beispiel gesundes, gut schmeckendes Wasser aus dem Hahn trinken. In den USA gibts das nur in Flaschen. Es ist meist genauso teuer wie kalorienreiche Softdrinks, die für Kinder anziehender sind als Mineralwasser.
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Das allein spricht noch nicht gegen eine Zulassung.
Ich bin auch nicht gegen die Verwendung bei Kindern in Ausnahmefällen, befürchte aber, dass die Medikamente zu oft und zu schnell zum Einsatz kommen würden.
Was wäre schlimm daran?
Bei Kindern lassen sich die Weichen für einen gesunden Lebensstil noch relativ einfach stellen, weil sie noch nicht so festgefahren sind im Teufelskreis von: Heisshunger haben, zu viel essen, wenig Sättigung verspüren. Mit einer medikamentösen Behandlung in Form einer Spritze dürfte es schwieriger sein, ein Gefühl fürs Essverhalten zu entwickeln. Wie stark die Nebenwirkungen bei einer lebenslangen Einnahme sind, lässt sich auch noch nicht sagen.
Es wird oft argumentiert, dass Übergewicht die viel grösseren Nebenwirkungen hat als ein Medikament.
Das stimmt natürlich. Bei adipösen Kindern, die bereits an Folgeerkrankungen wie Diabetes leiden oder zum Beispiel schwer atmen, weil sich im Brustkorb und Halsbereich Fett angesammelt hat, ist eine medikamentöse Behandlung absolut sinnvoll. Kinder können Übergewicht jedoch auch mit einer Anpassung der Ernährungsgewohnheiten schnell loswerden. Ein Fünfjähriger muss in der Regel höchstens fünf Kilogramm Gewicht abnehmen. Bei einem 15-Jährigen können es bis zu 50 kg sein.
Sprechen wir über die Eltern. Sie haben wahrscheinlich den grössten Einfluss auf das Körpergewicht eines Kindes.
80 Prozent der Kinder, die übergewichtig sind, haben auch übergewichtige Eltern. Das ist einerseits durch die Gene und andererseits durch deren Prägung im Mutterleib bedingt.
Welche Konsequenzen hat das konkret?
Eltern bemerken oft nicht, wenn ihr Kind bereits satt ist, und bieten ihm ein Fläschchen an, obwohl es lediglich unruhig ist. Nahrungsmittel sollten niemals als Trost oder Belohnung verwendet werden, da dies das Essverhalten bis ins Erwachsenenalter beeinflussen kann.
Was wird unternommen, um die Chancen von Kindern zu erhöhen, deren Eltern an einem ungesunden Lebensstil festhalten?
In der Schweiz gibt es zahlreiche Präventivmassnahmen. Bewegung wird zum Beispiel im Schulsport gefördert, im Kochunterricht das Bewusstsein für gesunde Nahrung. Es gibt leicht verständliche Nahrungsmittelkennzeichen wie den Nutri-Score. Obst und Gemüse sind im Vergleich zu Ländern wie Ungarn relativ günstig.
Wie häufig sprechen Eltern in Ihrer Sprechstunde das Thema Abnehmspritze an?
Ich werde zunehmend danach gefragt. Eltern wünschen sich oft eine einfache Lösung für das Übergewicht ihrer Kinder. Den Lebensstil zu ändern, ist schwieriger. Aber auch nachhaltiger.
Prof. Dr. med. Dagmar l'Allemand (66) ist Co-Präsidentin des Fachverbandes Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AKJ). Die Hormon- und Diabetes-Spezialistin leitete über zwanzig Jahre lang die Endokrinologie und Diabetologie am Ostschweizer Kinderspital und war massgeblich an der Entwicklung der Leitlinien für die Schweiz beteiligt, die übergewichtigen Kindern den Zugang zu Therapie ermöglichte. Heute berät l'Allemand übergewichtige Kinder und ihre Eltern in ihrer Sprechstunde am Kinderspital Zentralschweiz in Luzern.
Prof. Dr. med. Dagmar l'Allemand (66) ist Co-Präsidentin des Fachverbandes Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AKJ). Die Hormon- und Diabetes-Spezialistin leitete über zwanzig Jahre lang die Endokrinologie und Diabetologie am Ostschweizer Kinderspital und war massgeblich an der Entwicklung der Leitlinien für die Schweiz beteiligt, die übergewichtigen Kindern den Zugang zu Therapie ermöglichte. Heute berät l'Allemand übergewichtige Kinder und ihre Eltern in ihrer Sprechstunde am Kinderspital Zentralschweiz in Luzern.