Teilweise sind Rufe aus den Trümmern zu hören. Und manchmal auch nur Klopfgeräusche, die die Retter aufhorchen lassen. In diesem Fall war es ein Hinweis von Anwohnern, dass sich Menschen zum Zeitpunkt des Bebens im Gebäude befanden, der die Einsatzkräfte aus der Schweiz dazu bringt, genau in diesem Trümmerhaufen zu suchen.
Mit blossen Händen graben Christoph Scholl (37) und seine Kollegen am Dienstagnachmittag in den Überresten eines Hauses in einem Vorort von Antakya, der Hauptstadt der südtürkischen Provinz Hatay, nach Verschütteten. Die Frau, die sie aus den Trümmern ziehen, lebt. Ein Auto fährt vorbei, das die Verletzte ins Spital bringt.
Ob sie dort lebend ankommt? Die Einsatzkräfte werden es nie erfahren. Kaum ist ein Mensch gerettet, steht die Rettung des nächsten an. Ständig scharen sich verzweifelte Angehörige um das Einsatzteam aus der Schweiz und flehen um Hilfe.
Über 7200 Tote
Die Provinzhauptstadt Antakya, so gross wie Zürich, liegt weniger als 200 Kilometer Luftlinie von den Epizentren der beiden Beben entfernt, die sich am Montagmorgen ereigneten. Seither kam es laut der türkischen Katastrophenschutz-Behörde zu über 400 Nachbeben in der Region, auch der Norden Syriens ist stark betroffen.
Allein in der Türkei ist die Rede von mindestens 4500 Toten und rund 27'000 Verletzten. Insgesamt kamen damit über 7200 Menschen ums Leben – und die Zahlen dürften noch erheblich steigen. Am Dienstag korrigierte die türkischen Behörden die Opferzahl teilweise im Stundentakt nach oben.
In vielen Stadtteilen ist der Strom ausgefallen, auch die Gasleitungen wurden durch das Erdbeben teilweise zerstört. Die Menschen, deren Daheim noch steht, halten sich aus Angst vor weiteren Beben draussen auf, suchen Zuflucht in Schulen oder Moscheen oder übernachten im Auto. Denn in der Nacht fallen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (68) rief am Dienstag in zehn Provinzen den Ausnahmezustand aus. Im kriegsgebeutelten Syrien ist die Situation teilweise noch prekärer.
Nachts gibts es keine Pause
60'000 türkische Rettungskräfte sind im Krisengebiet im Einsatz, hinzukommen eingeflogene Teams aus zig Ländern. Aus der Schweiz ist eine 80-köpfige Gruppe in die Türkei geflogen, darunter neun Berufsmilitärs und 20 Durchdiener des Bereitschaftsverbands Katastrophenhilfe.
Nachdem die Schweizer am Montagabend in der Südtürkei gelandet waren, bauten sie am Dienstag in einem Vorort von Antakya ihr Lager auf. Weil Schweissgeräte, Trennschleifer und weiteres Material wegen der schwierigen Verhältnisse vor Ort erst später das Lager erreichten, haben sie sich erst einmal ohne Gerätschaften an die Arbeit gemacht.
Die Rettung läuft während 24 Stunden. Nachts suchen die Schweizer mit der Hilfe von Taschenlampen und Scheinwerfern nach Überlebenden. Auch Suchhunde kommen zum Einsatz. Der Verein Redog schickte zwei Equipen mit insgesamt 14 Hunden und 24 Helfern in die Südtürkei. Am Dienstag konnten sie insgesamt vier Menschen retten.
«Es ist ein Kampf gegen die Zeit»
Jede Minute zählt. Die ersten 72 Stunden nach so einem Ereignis seien zentral, sagt Alessio Marazza (50), Oberst im Generalstab der Schweizer Armee und Stabschef des Lehrverbands Genie, Rettung und ABC. «Später nimmt die Chance, retten zu können, stark ab.»
Noch haben die Retter Hoffnung, Überlebende aus dem Schutt zu ziehen. Wenns kalt sei, dehydriere man weniger schnell und überlebe länger unter Trümmern, erklärt Marazza.
Doch nicht immer schaffen es die Schweizer Helfer rechtzeitig. Ein Mann rief das Team, weil er eine Frau in den Trümmern gesehen hatte. Weil sie eingeklemmt war, holten die Einsatzkräfte einen Arzt zur Hilfe. Doch als dieser kurz darauf herbeieilte, war es zu spät. Urs Bächtold (44), Mitglied des Schweizer Rettungsteams, konnte nur noch ihren Tod feststellen.
Obwohl er die Menschen nicht kennt, nehmen ihn die Schicksale, die er in diesen Tagen erlebt, mit. Er ist sich bewusst: «Es ist immer ein Kampf gegen die Zeit. Manchmal gewinnt man ihn – und manchmal leider nicht.»