Mehr als 5000 Tote, über 23'000 Verletzte, zehntausende Obdachlose. Die Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion haben verheerende Schäden angerichtet. Und zumindest für die Türkei – ungleich stabiler und wirtschaftsmächtiger als das kriegsgebeutelte Syrien – stellt sich die Frage: Wie viele Opfer hätten verhindert werden können?
Seit 20 Jahren zahlen die Türkinnen und Türken 7,5 Prozent Erdbebensteuer. Die Sondersteuer wurde nach der Erdbebenkatastrophe von Izmit eingeführt. Damals, am 17. August 1999, waren bei einem Erdstoss der Stärke 7,6 mehr als 18'000 Menschen ums Leben gekommen.
Gelder nicht in Erdbebenschutz investiert
Doch die Gelder – es sind, in Franken umgerechnet, Dutzende Milliarden – sind zu einem grossen Teil nicht in die Verbesserung der Erdbebensicherheit investiert worden. Nach Angaben der Oppositionspartei CHP ist mindestens die Hälfte in den allgemeinen Staatshaushalt geflossen.
Die Regierung habe auf Nachfrage der Opposition zugeben müssen, dass auch andere Teile des Staatsbudgets durch diese Steuereinnahmen gedeckt worden seien, sagt Türkei-Experte Ali Sonay von der Uni Bern. «Ob Opfer hätten verhindert werden können, müssen Untersuchungen zeigen. Was aber gesagt werden kann: Es gab Warnungen, dass diese Region von einem schweren Erdbeben betroffen sein wird. Das wirft natürlich die Frage auf, warum die Gebäude nicht besser geschützt wurden.»
Erdogan liess Protest unterdrücken
Schon vor drei Jahren, als ein Erdbeben der Stärke 6,8 die Region nördlich der jetzt betroffenen Provinzen ereilte und rund 40'000 Gebäude beschädigte, musste sich Präsident Recep Tayyip Erdogan (68) mit Protesten herumschlagen. Unter dem Schlagwort «Wo ist die Erdbebensteuer?» demonstrierten Menschen, als sie vom Staat um Spenden gebeten worden waren.
Doch anstatt Rechenschaft abzulegen, liess Erdogan die Demonstrierenden strafrechtlich verfolgen. «Wir haben die Gelder eingesetzt, wo es nötig war! Wir haben auch keine Zeit mehr, über solche Dinge Rechenschaft abzulegen», liess er ausrichten.
Gelder wurden veruntreut
Der türkische Journalist Bülent Mumay (45) schrieb damals, dass zudem Gelder veruntreut worden seien: Acht Millionen Dollar, die ein Unternehmen dem Roten Halbmond – das türkische Pendant zum Roten Kreuz – zukommen liess, seien an Erdogan-nahe Stiftungen weitergeleitet worden.
«Offensichtlich wurden unsere Gelder also nicht dafür verwendet, die Türkei auf mögliche Erdbeben vorzubereiten – der Staat liess es sich bezahlen, dass die Menschen weiter in instabilen Gebäuden wohnen dürfen», so Mumay in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Grosses Thema Baupfusch
An anderer Stelle ist die Türkei heute aber besser vorbereitet als 1999: Seit 2009 gibt es die Katastrophenschutzbehörde Afad, die nun alle Hilfs- und Rettungsaktionen koordiniert. Für Istanbul – das von Geologen seit Jahren als wahrscheinlicher Ort für ein grosses Erdbeben angesehen wird – wurden Karten erstellt mit den besonders gefährdeten Zonen. Die Stadtverwaltung wies Freiflächen aus, auf denen sich die Einwohner im Katastrophenfall versammeln können. Wie Mumay schreibt, wurden allerdings «zahlreiche als Erdbebensammelstelle ausgewiesene Grundstücke mit Shopping-Malls bebaut».
Auch die verschärften Bauvorschriften dürften kaum ihren Zweck erfüllen, denn aufgrund der Korruption würden diese oftmals nicht eingehalten. «Wir haben Bilder aus der betroffenen Region gesehen, auf denen mehrere Hochhäuser noch stehen, eines in der Mitte aber ist dem Erdboden gleich», sagt die deutsche Politikerin Serap Güler (42) am Montagabend in der ARD-Sendung «Hart aber fair». «Da muss man sich doch fragen: Wie kann das passieren? Da sind wir schnell bei Baupfusch.»
«Jetzt brauchen die Menschen Hilfe»
Dem schloss sich auch der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (57) an: «Das Problem sind nicht die Gesetze. Das Problem ist die Umsetzung der Gesetze, die enge Verbindung der Bauwirtschaft mit der Regierungspartei.» Das sei alles hinreichend bekannt, doch jetzt sei nicht der Moment für diese Diskussionen. «Jetzt brauchen die Menschen Hilfe.»
Noch mag die Bergung der Überlebenden und die Soforthilfe im Fokus stehen. Doch die Regierung Erdogan wird sich in den kommenden Tagen und Wochen unangenehmen Fragen stellen lassen müssen. (sf)