Ein Mann aus Tibet reist im Juni 2018 in die Schweiz ein und stellt ein Asylgesuch. Er gibt an, aus Tibet zu stammen und sagt, bis zu seiner Ausreise im chinesisch kontrollierten Land gelebt zu haben. Weil er sich kritisch über China geäussert habe, hätten ihn die chinesischen Behörden gesucht. Deshalb sei er geflohen.
Nur: Die Schweizer Behörden glauben dem Mann nicht. Sie wollen seine Herkunft abklären. In solchen Fällen kommt die Fachstelle Lingua des Staatssekretariats für Migration (SEM) ins Spiel. Sie übernimmt im Schweizer Asylwesen eine zentrale Rolle.
Ihre Expertinnen und Experten führen Sprach- und Wissensanalysen bei Asylsuchenden durch, deren Herkunft ungeklärt ist. Das SEM hält ihre Namen geheim. In den Berichten erscheinen sie nur unter Abkürzungen und Pseudonymen – zum Schutz der Experten, wie das SEM sagt.
Fachstelle umstritten
Die Fachstelle gilt entsprechend als umstritten – weil ihre Berichte geheim sind. Und diese sehr viel Gewicht haben. Die Betroffenen erhalten nur Zusammenfassungen der Berichte. Die Berichte sind entscheidend für die Ablehnung der betroffenen Asylgesuche.
Auch im Fall des Tibeters. Die Fachstelle kommt zum Schluss: Der Mann sei zwar Tibeter, habe aber nicht im Tibet gelebt, sondern im Exil, urteilt die Fachperson mit dem Pseudonym AS19. Asylgesuch abgelehnt.
Aus Versehen gelangt statt der Zusammenfassung das vollständige Gutachten an den Asylsuchenden. Der Mann aus Tibet ficht den Entscheid an, lässt von vier Tibetologie-Professorinnen und -Professoren ein Gegengutachten erarbeiten. Deren Fazit: Das Gutachten des Bundes sei ungenügend.
Gericht stützt Analysen
Bereits in der Vergangenheit kritisierten führende Tibetologen die Gutachten der Lingua-Fachstelle und den Experten AS19, wie die «NZZ am Sonntag» 2020 schrieb. Es sei offensichtlich, dass der Experte «sehr chinafreundlich» sei und eine Reihe seiner Aussagen «wie die offizielle chinesische Staatspropaganda» tönen.
Nun hat das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) über den Fall des Tibeters geurteilt. In einem am Donnerstag veröffentlichten Urteil schreibt es: Die Qualität der Analysen der Fachstelle Lingua sowie die Fachkompetenz von AS19 seien «nicht zu beanstanden». Und: Die Methoden der Bundesstelle entspreche im internationalen Vergleich den «besten Standards». Das Urteil ist ein Referenzurteil. Bedeutet: Es ist anwendbar auf alle ähnlich gelagerten Fälle.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) kritisiert darum das Verdikt. Es sei nicht nachzuvollziehen, weshalb das Gericht das Gegengutachten nicht stärker berücksichtige, heisst es in einer Medienmitteilung. Die SFH befürchtet zudem, dass das Urteil negative Auswirkungen auf künftige Beschwerden haben werde.
Wegweisungen schwierig umzusetzen
Das SEM selber will das Urteil und dessen Auswirkungen nun eingehend analysieren. Auf Anfrage heisst es: «Das BVGer hat in seinem Referenzurteil die Gültigkeit und hohe Qualität der Sprachanalysen gestützt, sowie die Qualifikation, Sorgfalt, Neutralität und Unabhängigkeit der sachverständigen Person bestätigt, die die Analyse im betreffenden Fall erstellt hat.»
Nicht nur im konkreten Fall, sondern allgemein bei Menschen aus dem Tibet, sind Wegweisungen allerdings schwierig umzusetzen. Denn: Nach China können sie nicht ausgewiesen werden, weil ihnen dort die Verfolgung droht. Andere Länder kommen indes auch kaum infrage, weil die Betroffenen behaupten, aus Tibet zu stammen.
Damit droht ihnen ein Dasein ohne Perspektiven als Sans-Papiers, weil sie nicht ausgeschafft werden können und die Behörden keine Härtefallgesuche akzeptieren.