Asylwesen sparte 160 Mio dank Corona – doch Migrationschef Gattiker (64) warnt
«Gehen von deutlicher Zunahme der Asylzahlen aus»

Der höchste Schweizer Asylchef, Mario Gattiker (64), kann aufatmen. Die Asylzentren kamen 2020 recht gut durch die Pandemie. Doch Corona dürfte auf die Migration nach Europa für die Zukunft noch weitreichende Auswirkungen haben, sagt der Staatssekretär am Telefon.
Publiziert: 11.01.2021 um 01:54 Uhr
|
Aktualisiert: 11.01.2021 um 08:52 Uhr
1/8
Staatssekretär Mario Gattiker ist froh, dass er in seinen Asylheimen die Corona-Zahlen tief halten konnte und ...
Foto: Thomas Meier
Interview: Pascal Tischhauser

BLICK: Herr Gattiker, die Schweiz verzeichnet für 2020 vielleicht 11’000 Asylgesuche. Das sind so wenige wie seit 2007 nicht mehr. Sind Sie überrascht?
Mario Gattiker: Wir verbuchten 11'041 Asylgesuche. Anfang Jahr waren wir von 15’000 bis 16’000 Gesuchen ausgegangen. Die Abweichung führen wir auf die Corona-Pandemie zurück. Dadurch haben wir im Asylbereich gegenüber dem Budget 2020 ungefähr 160 Millionen Franken eingespart. Wir gehen davon aus, dass Corona auch weiterhin ein Faktor bei der Asylmigration bleibt.

Sie werden also auch nächstes dieses Jahr tiefe Kosten haben?
Vermutlich schon noch, eine klare Aussage ist schwierig. Derzeit erarbeiten unsere Fachleute die neuste Prognose. Bis diese steht, gehe ich persönlich von Zahlen aus, wie wir sie 2019 hatten. Also von wieder etwa 15’000 Gesuchen. Danach allerdings dürfte sich die Lage verändern.

Und wie?
Wegen des coronabedingten wirtschaftlichen Abschwungs in vielen Regionen und wegen daraus resultierender innenpolitischer Spannungen dürfte es zu vermehrter Abwanderung kommen. Mittelfristig müssen wir also von einer deutlichen Zunahme der Asylzahlen in ganz Europa ausgehen. Und damit auch von steigenden Kosten. Ich rede hier von den Jahren 2022 bis 2025.

Sie glauben also an eine Asylwelle wegen Corona?
Wir müssen mit klar höheren Zahlen rechnen, ja. Das Staatssekretariat für Migration steht mit dieser Einschätzung nicht alleine. Zahlreiche internationale, im Migrationsbereich tätige Organisationen erwarten eine solche Zunahme nach dem Ende der Pandemie. Wie gross diese ausfallen wird, ist heute schwierig einzuschätzen. Wir müssen das aber im Auge behalten und uns darauf gut vorbereiten. Dazu gehört auch die konsequente Fortführung unserer Politik, die auf beschleunigten Asylverfahren basiert und dafür sorgt, dass wir weiterhin kein bevorzugtes Zielland sind für Menschen ohne echte Asylgründe.

Sie hätten doch Zeit.
Dank guter Unterstützung durch Kantone und Gemeinden konnten wir 2020 fünf zusätzliche Asylunterkünfte eröffnen. Dafür sind wir dankbar. Diese brauchten wir trotz der tiefen Asylzahlen, um die Corona-Mindestabstände auch in den Bundesasylzentren jederzeit zu gewährleisten. Wir lasten die Zentren darum nur zu gut 50 Prozent aus. Damit wir diese Corona-Vorgaben auch künftig sicher einhalten können, suchen wir schon jetzt Unterkünfte. Wir können nicht erst Kapazitäten aufbauen, wenn die Asylsuchenden in der Schweiz sind.

Wie viele Betten brauchen Sie?
Derzeit verfügen wir über 2500 Plätze, dank deren wir übers Jahr 15’000 Asylgesuche bewältigen können – es gibt ja immer wieder Abgänge, sodass Betten frei sind und wieder neu besetzt werden können. Es braucht eine Reserve, falls die Migration wieder zunimmt. Das Notfallkonzept sieht je nach Szenario bis zu 8000 Unterbringungsplätze beim Bund vor. Damit können wir auch hohe Eingänge bei über 30'000 Asylgesuchen auffangen.

Plätze werden frei, weil Sie abgewiesene Asylbewerber in die Herkunftsländer zurückschicken. Das ist zu Corona-Zeiten nicht unumstritten.
In der ersten Welle bis im Sommer haben wir kaum jemanden in seine Heimat zurückgeführt. Aber als über die Ferienzeit die Reisebeschränkungen gefallen sind und auch wieder Flüge zur Verfügung standen, konnten wir unseren Rückführungsauftrag wieder konsequenter wahrnehmen. Das Staatssekretariat für Migration ist nicht legitimiert, einfach nach eigenem Gutdünken die Rückführungen zu stoppen. Gerade Überstellungen nach den Dublin-Regeln, wonach Asylsuchende in jenes europäische Land zurückmüssen, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben, waren in den Sommermonaten wieder möglich. Inzwischen verzeichnen wir bei der Zahl der Ausreisen in aussereuropäische Länder wieder 60 Prozent des Vorjahresniveaus.

In den Asyllagern auf Samos und Lesbos herrschen schlimme Zustände.
Ja, Griechenland hat humanitär eine schwierige Situation. Die Bilder, die wir sehen, lügen leider nicht. Die Lösung für die Probleme liegen aber in Griechenland selber.

«Es fehlt an allem!»
2:01
«Es fehlt an allem!»:Flüchtlingslager «Moria 2.0» versinkt im Schlamm

Machen Sie es sich hier nicht zu einfach? Die Schweiz tut nichts und sagt, die Griechen sollen selbst schauen.
Halt, die Schweiz unterstützt Griechenland seit Jahren, und zwar engagiert und sehr konkret. Unser Land nimmt unbegleitete minderjährige Asylsuchende ohne Eltern aus Griechenland auf, wenn sie einen Bezug zur Schweiz haben. In diesem Jahr waren das immerhin rund 90 Minderjährige. Und wir leisten humanitäre Hilfe vor Ort und unterstützen die griechischen Behörden seit Jahren mit verschiedenen Projekten, etwa im Bereich der Strukturen für Familien und Kinder. Die Schweiz hat auch die Trinkwasserversorgung für Kara Tepe aufgebaut, also fürs Nachfolgelager des abgebrannten Moria-Lagers.

Mit der Aufnahme einiger Kinder mit Verwandten in der Schweiz helfen wir nur wenigen.
Immerhin gehört die Schweiz zu jenen europäischen Staaten, die am meisten Minderjährige aufgenommen haben. Eine Umverteilung der Asylsuchenden in Griechenland auf andere Staaten ist jedoch keine Lösung. Die Griechen müssen die notwendigen Unterbringungsstrukturen selber zur Verfügung stellen und funktionierende Asylverfahren garantieren. Europa, und auch die Schweiz, unterstützen sie dabei. Wir haben nicht mehr die Situation wie 2015 und Anfang 2016, als über eine Million Menschen anlandeten und Griechenland dringend auf die Solidarität aller Schengenstaaten angewiesen war. Für 2020 dürfte Griechenland etwas über 15’000 Anlandungen verzeichnen, noch 2019 waren es 75’000.

Zurück in die Schweiz. Wie viele Asylsuchende steckten sich mit Corona an?
Wir hatten erstaunlich wenige Ansteckungen. Die Asylbetreuungsorganisationen und unsere Mitarbeitenden haben in den Bundesasylzentren hervorragende Arbeit geleistet und den Asylsuchenden die Corona-Regeln verständlich gemacht. Das war anspruchsvoll. So hatten wir nur 230 Ansteckungen und glücklicherweise keinen einzigen Todesfall. Ich verhehle nicht, dass mir Corona Anfang Jahr wegen unserer Kollektivunterkünfte sehr, sehr grosse Sorgen gemacht hat.

Langjähriger Migrationschef

Seit 2015 leitet Mario Gattiker das Staatssekretariat für Migration. Doch im Herbst ist Schluss. Dann geht der 64-Jährige in Pension. Der Jurist und Familienvater hat eine lange Bundesverwaltungskarriere hinter sich. 2001 war er als leitender Sekretär der Eidgenössischen Ausländerkommission in die Verwaltung eingestiegen.

Seit 2015 leitet Mario Gattiker das Staatssekretariat für Migration. Doch im Herbst ist Schluss. Dann geht der 64-Jährige in Pension. Der Jurist und Familienvater hat eine lange Bundesverwaltungskarriere hinter sich. 2001 war er als leitender Sekretär der Eidgenössischen Ausländerkommission in die Verwaltung eingestiegen.

Sorgen machte sich die Schweiz auch, als bekannt wurde, dass man mit China ein Migrationsabkommen geschlossen hat. Das Abkommen wurde bloss einmal angewandt. So wichtig kann es nicht sein, oder?
Ich habe Verständnis für diese Frage. Sie bringt die Verwirrung zum Ausdruck, die die zahlreichen Falschmeldungen zu diesem Thema ausgelöst haben.

Was ist denn falsch?
Zuerst mal hiess es, es sei ein Geheimvertrag. Stimmt nicht, das Parlament wurde 2016 darüber in Kenntnis gesetzt, auf Anfrage haben wir den Vertrag jederzeit herausgegeben. Es hiess, wir würden damit chinesische Spionage unterstützen, was von reichlicher Naivität zeugt. Ebenso falsch ist es, dass Personen befragt würden, die bei einer Rückkehr gefährdet wären.

Worum geht es denn bei dieser Vereinbarung?
Kein Staat dieser Welt nimmt Personen zurück, ohne vorher nicht festgestellt zu haben, dass es sich um eigene Staatsbürger handelt. Deshalb regelt diese Vereinbarung die Zusammenarbeit mit chinesischen Migrationsbehörden zur Identifikation von Personen, die zwar mutmasslich aus China stammen, aber beispielsweise keine Ausweispapiere haben und deshalb nicht zurückgeführt werden können. Das ist im Interesse der Schweiz! Es geht ausschliesslich um Personen, bei denen in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt wurde, dass sie bei einer Rückkehr nicht gefährdet sind und daher die Schweiz zu verlassen haben.

Es geht hier also um abgewiesene Asylbewerber.
Nicht nur! Es geht beispielsweise auch um Schwarzarbeiter, die kein Asylgesuch gestellt haben, sich aber illegal in der Schweiz aufhalten und diese verlassen müssen. Dass wir Wegweisungen vollziehen können, gehört zu den Grundpfeilern einer glaubwürdigen Migrationspolitik.

Aber bei China ist es ein solches Abkommen natürlich heikler als bei Deutschland oder Liechtenstein.
Interessant ist, was mehrere hochrangige Vertreter des UNHCR dazu sagen: Sie bestätigen klipp und klar, dass solche Abkommen asylrechtlich unbedenklich und internationaler Standard sind. Es geht bei dieser Vereinbarung eben ausschliesslich um Personen, die nach einer Rückkehr nichts zu befürchten haben. Tibeter sind wie gesagt nicht betroffen, und auch sonst niemand, dem Verfolgung drohen könnte. Unsere Gesetzgebung erlaubt die Einladung ausländischer Delegationen zwecks Klärung der Identität explizit. Die Vereinbarung regelt Modalitäten und Abläufe, was für die Schweiz mehr Rechtssicherheit schafft. Wir sind aber nicht dringend auf dieses Abkommen angewiesen. Es ist ja inzwischen abgelaufen.

Und warum wollen Sie dennoch eine Neuauflage des Abkommens?
Nochmals: Wir sind nicht darauf angewiesen, weil die Identifikation auch ohne Vereinbarung funktioniert. Aber die Vereinbarung liegt im Interesse der Schweiz, weil sie rechtsstaatlich unbedenklich ist und die Identifikationsprozesse langfristig sichert. Was wir hier mit China vereinbart haben, ist internationaler Standard.

Anderes Thema. Die Abstimmung zur Begrenzungs-Initiative dürfte Ihnen mehr Freude gemacht haben: 62 Prozent der Stimmenden schickten sie bachab. Wie schätzen Sie das ein?
Es hat gezeigt, dass die Schweiz in dieser unsicheren Zeit keine Experimente eingehen will. Und dass sich unsere Bevölkerung hinter die Personenfreizügigkeit und die Migrationszusammenarbeit mit der EU stellt. Bei den Grenzschliessungen wegen Corona haben wir zum Beispiel äusserst gut mit unseren Nachbarstaaten zusammengearbeitet.

Gab es Probleme mit London, dass die Schweiz die Personenfreizügigkeit wegen Corona vor dem 31. Dezember gekappt hat?
Nein. London ist genauso an der Eindämmung des mutierten Virus interessiert wie Brüssel, Berlin und Bern. Zudem ging es nur um wenige Tage. Wir verhängten ja ein Einreiseverbot mit Ausnahmen für begründete Einreisen – also beispielsweise wenn ein Engländer in einem Zürcher Spital arbeitet. Ohnehin ist UK am 1. Januar 2021 als Folge des Brexits für die Schweiz zu einem Drittstaat geworden. Es gilt ein Einreiseverbot mit Ausnahmen, da das Königreich ein Corona-Risikoland ist.

Ist mit dem Vereinigten Königreich für die Zeit nach dem Brexit alles geregelt?
Für die etwa 40’000 Schweizer, die im Vereinigten Königreich sind, und die etwa gleich vielen Briten, die schon bei uns leben, ist alles in Zusammenhang mit Einreise und Aufenthalt geregelt. Fürs Jahr 2021 haben wir Sonderkontingente für Erwerbstätige aus UK bereitgestellt. Ob es danach separate bilaterale Regeln mit UK beispielsweise für Arbeitnehmer oder Studierende geben soll, wird noch zu verhandeln sein. Das hängt mitunter auch vom Verhältnis zwischen UK und der EU ab.

Das Vereinigte Königreich hat ja jetzt einen Handelsvertrag mit der EU geschlossen. Dieser kennt keine fremden Richter. Beim Rahmenabkommen mit Brüssel müssten wir solche aber akzeptieren. Muss die Schweiz hier nachverhandeln?
Hier kann ich bloss bestätigen, dass wir mit der EU im Gespräch sind, um die drei vom Bundesrat definierten Punkte zu klären: Unionsbürgerrichtlinie, Lohnschutz und die Frage der staatlichen Beihilfen. Der Bundesrat hat seine Position am 11. November beschlossen und festgelegt, weiter nicht zu kommunizieren. Daran halte ich mich.

Aber nach dem Brexit ist die Situation eine andere: UK muss sich nicht dem Europäischen Gerichtshof unterstellen, wir aber sollen ihn akzeptieren. So sieht das Rahmenabkommen noch schlechter aus.
Sie können es gerne noch einige Male versuchen. Ich halte mich daran, nichts dazu zu sagen.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?