«Menschen sterben an der Grenze wegen Frontex»
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Flüchtlinge gegen die Vorlage:«Menschen sterben an der Grenze wegen Frontex»

Beitrag zu Frontex-Referendum
Flüchtlinge erzwingen Abstimmung über Grenzschutz

Kein Stimmrecht, aber Stimmen sammeln: Ohne das Engagement von Migranten-Organisationen wäre das Frontex-Referendum nicht zustande gekommen.
Publiziert: 01.05.2022 um 17:31 Uhr
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Nein zu Frontex: Flüchtlinge und Migrantenorganisationen beschlossen im Alleingang, das Referendum zu ergreifen.
Foto: Nathalie Taiana
Camilla Alabor

Wenn Malek Ossi (29) an Podiumsdiskussionen teilnimmt, sorgt das bei den anderen Gästen häufig für Verwirrung. Der Syrer kämpft für ein Nein zu Frontex. Doch er sitzt nicht als Betroffener auf dem Podium, sondern als Aktivist.

«Viele Politiker kommen damit nicht klar», stellt Ossi fest. Sie wüssten nicht recht, was sie davon halten sollen, dass ein Flüchtling politisiert. Sie glaubten: «Mein Beruf ist ‹Flüchtling›. Damit hat es sich», sagt der Syrer, der neben seinem Studium freiwillig für Alarm Phone arbeitet, eine Organisation für Flüchtlinge in Seenot.

Ossi mag sich an solche Erwartungen nicht anpassen. Und begründet stattdessen, warum die Schweiz eine Erhöhung des Beitrags an die EU-Grenzschutzagentur Frontex ablehnen sollte: «Ein Nein wäre ein Signal, dass wir nicht einverstanden sind damit, was an der EU-Aussengrenze passiert.»

Der Zürcher verweist auf Medienberichte, wonach Frontex die illegale Zurückweisung von Migranten an EU-Aussengrenzen, Pushbacks genannt, verschleiert haben soll. «Mit einer Ablehnung kann die Schweiz Druck auf Frontex ausüben, um die Praxis der Pushbacks zu stoppen.»

Die Befürworter des Referendums widersprechen: Das Nein hätte einen Ausschluss der Schweiz aus dem Schengen-Raum zur Folge. Mit negativen Folgen für die Sicherheit des Landes und wirtschaftlich gravierenden Konsequenzen – von den Auswirkungen auf die sowieso schon schwer angeschlagenen Beziehungen zur EU ganz zu schweigen.

Laut Umfragen dürfte die Stimmbevölkerung die Vorlage am 15. Mai annehmen. Dennoch ist die Abstimmung aussergewöhnlich. Denn ohne das Engagement von Malek Ossi und anderen Mitgliedern von Migrantenorganisationen wäre das Referendum kaum zustande gekommen.

SP und Grüne zögerten

Im Parlament lehnten SP und Grüne die Aufstockung des Schweizer Beitrags von 24 auf 61 Millionen Franken für die europäische Grenzschutzagentur ab. Doch das Referendum wollte keine der beiden Parteien ergreifen. Zu unsicher waren die Aussichten, die nötigen Unterschriften zusammenzubringen.

So schien das Thema Frontex erledigt – bis eine kleine, weitgehend unbekannte Organisation namens Migrant Solidarity Network beschloss, das Referendum auf eigene Faust zu ergreifen. Und damit die Sache plötzlich doch noch ins Rollen brachte.

Einer von jenen, die an der entscheidenden Sitzung des Netzwerks dabei waren, ist Saeed Farkhondeh (20). Eine Vereinskollegin sprach ihn auf das Referendum an und fragte, ob er mitmachen würde. «Ich sagte: Natürlich!»

Seither engagiert sich Farkhondeh, der mit seiner Familie vor acht Jahren vom Iran in die Schweiz flüchtete, an vorderster Front für die Abstimmung: Er sammelte im Winter Unterschriften, organisierte Spendenaktionen und amtet derzeit als Mediensprecher des Nein-Komitees. «Wir haben das Ganze angestossen», sagt Farkhondeh stolz, «obwohl uns viele sagten, wir hätten keine Chance.»

Wie viele Unterschriften Saeed Farkhondeh, Malek Ossi und weitere Geflüchtete zusammengetragen haben, ist unklar. Neben dem Migrant Solidarity Network sammelten zahlreiche weitere kleine Migrantenorganisationen. Eine beeindruckende Leistung, findet Grünen-Chef Balthasar Glättli (50). «Es ist extrem unüblich, dass eine Abstimmung von Menschen angestossen wird, die kein Stimmrecht haben.»

Allerdings: Im Alleingang wäre dies den Flüchtlingen kaum gelungen. Sowohl die Plattform Wecollect mit ihrer breiten Basis an Unterstützern als auch die Grünen und die SP, aber auch kirchliche Kreise unterstützten das Referendum. Ohne den Support der Grossen hätte es also kaum geklappt – und selbstverständlich sind in den Migrantenorganisationen auch Schweizerinnen aktiv.

Frontex-Chef tritt ab

Fabrice Leggeri (54), Direktor der ­europäischen Grenzschutzagentur Frontex, räumt seinen Posten, wie am Freitag bekannt wurde. Der Franzose stand seit längerem in der Kritik, weil Frontex von ille­galen Zurückweisungen von Migranten an EU-Aussengrenzen gewusst und diese verschleiert haben soll. ­Zudem soll Leggeri mehrere Mit­arbeiter gemobbt und belästigt ­haben.

Fabrice Leggeri (54), Direktor der ­europäischen Grenzschutzagentur Frontex, räumt seinen Posten, wie am Freitag bekannt wurde. Der Franzose stand seit längerem in der Kritik, weil Frontex von ille­galen Zurückweisungen von Migranten an EU-Aussengrenzen gewusst und diese verschleiert haben soll. ­Zudem soll Leggeri mehrere Mit­arbeiter gemobbt und belästigt ­haben.

«Flüchtlinge haben etwas zu sagen»

An der Urne dürfte der Erfolg für Ossi und Farkhondeh ausbleiben. Doch für die beiden ist bereits das Zustandekommen des Referendums an sich ein Erfolg; das Engagement hat ihren persönlichen Zugang zur Politik verändert. «Unser Aktivismus hat den Menschen gezeigt: Flüchtlinge haben etwas zu sagen – und wir müssen ihnen zuhören», ist Ossi überzeugt.

Das sieht Saeed Farkhondeh ähnlich. Schliesslich hat er selber erlebt, was politischer Aktivismus bewirken kann. Ihm und seiner Familie drohte die Ausschaffung; über Jahre hinweg lebte die Familie in Rückkehrzentren. Erst nachdem der Jugendliche die Medien auf seinen Fall aufmerksam gemacht hatte und kritische Berichte folgten, erteilten die Behörden der Familie vergangenes Jahr eine Aufenthaltsbewilligung.

In den Augen Farkhondehs zeigt das: Mit Hartnäckigkeit lässt sich viel erreichen. Sogar der Sprung vom Abschiebezentrum ins Medienzentrum des Bundeshauses. Als Sprecher des Migrant Solidarity Network präsentierte er dort, im Herzen des Schweizer Politbetriebs, Ende Februar die Argumente des Nein-Komitees.

«Ich sass dort, wo normalerweise die Bundesräte sitzen», sagt Saeed, der Flüchtling. Und grinst dabei zufrieden.

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