Oberster Frontex-Aufseher gesteht in Blick-Interview Fehler ein
«Wir haben tatsächlich ein Problem»

Der Slowene Marko Gašperlin ist Chef des Frontex-Verwaltungsrats. In dieser Funktion übt er die Aufsicht über die EU-Grenzschutzagentur aus. Und gibt im Blick-Interview zu, dass die Menschenrechte an der Aussengrenze nicht immer gewahrt wurden.
Publiziert: 20.04.2022 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 20.04.2022 um 10:35 Uhr
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Marko Gašperlin ist Vorsitzender des Frontex-Verwaltungsrats, der die EU-Grenzschutzagentur beaufsichtigt. Er gibt im Blick-Interview Fehler zu.
Interview: Sermîn Faki und Lea Hartmann

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex steht in der Kritik. Ihre Beamten – vor allem aber das Management um Direktor Fabrice Leggeri (54) – würden wegschauen, wenn Migrantinnen und Migranten an der EU-Aussengrenze widerrechtlich abgewiesen, in Lebensgefahr gebracht und misshandelt würden. Menschenrechtler, aber zunehmend auch die Öffentlichkeit, stellen unangenehme Fragen zur «Festung Europa». Auch in der Schweiz, wo die Stimmbevölkerung am 15. Mai über eine Aufstockung von Frontex abstimmen wird. Frontex-Chef Leggeri äussert sich dazu nicht. Marko Gašperlin (59) schon. Der Slowene ist Vorsitzender des Frontex-Verwaltungsrats. Blick erreicht ihn über die Osterfeiertage per Videocall.

Herr Gašperlin, zuerst eine Frage zur Aktualität: Wie ist die Situation an der Ostgrenze Europas zur Ukraine? Was erleben und tun die Frontex-Mitarbeitenden dort?
Marko Gašperlin:
Sowohl in den EU-Mitgliedstaaten als auch in Moldawien unterstützen oder beraten Frontex-Mitarbeiter die lokalen Grenzwächter. Da geht es darum, Schutzbedürftige zu identifizieren, aber auch zu verhindern, dass Kriminelle die Fluchtbewegung aus der Ukraine ausnutzen.

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Wird der Krieg in der Ukraine die Arbeit von Frontex längerfristig verändern?
Die Arbeit nicht, den Fokus auf jeden Fall. Die osteuropäische Aussengrenze war bis vor kurzem kein Migrationsschwerpunkt. Da ging es vor allem um Zigarettenschmuggel und solche Sachen. Doch als Belarus vor einigen Monaten illegale Einwanderer in den Schengen-Raum schleuste, baten uns die baltischen Staaten um schnelle Hilfe. Und ich fürchte, solche hybriden Bedrohungen, um politische Ziele zu erreichen, werden an der Ostgrenze nun zunehmen.

Frontex soll massiv ausgebaut werden und in ein paar Jahren 10'000 Mitarbeitende haben. Warum ist das nötig?
Um es einfach zu sagen: Wenn wir innerhalb der Schengen-Staaten so wenig Grenzen wie möglich wollen, müssen wir die Aussengrenze besser schützen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben beschlossen, dass dies eine Verantwortung aller ist. Dafür braucht es ebenso mehr Leute wie für die Rückführungen illegaler Migranten, die Frontex durchführen soll.

Darum geht es bei der Frontex-Abstimmung

Die EU will den Schutz ihrer Aussengrenzen verbessern. Dazu soll die Grenzschutzagentur Frontex massiv mehr Mittel erhalten. Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz verpflichtet, sich daran zu beteiligen. Von wie heute 14 Millionen Franken jährlich soll sich der Frontex-Beitrag bis 2027 auf 61 Millionen Franken erhöhen. Zudem soll die Schweiz mehr Personal zur Verfügung stellen. Dagegen haben linke Kreise das Referendum ergriffen. Frontex spiele eine zentrale Rolle beim Ausbau der «Festung Europa», sagen sie.

Die EU will den Schutz ihrer Aussengrenzen verbessern. Dazu soll die Grenzschutzagentur Frontex massiv mehr Mittel erhalten. Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz verpflichtet, sich daran zu beteiligen. Von wie heute 14 Millionen Franken jährlich soll sich der Frontex-Beitrag bis 2027 auf 61 Millionen Franken erhöhen. Zudem soll die Schweiz mehr Personal zur Verfügung stellen. Dagegen haben linke Kreise das Referendum ergriffen. Frontex spiele eine zentrale Rolle beim Ausbau der «Festung Europa», sagen sie.

Frontex startete 2005 mit einem Budget von 6 Millionen Euro. 2027 soll die Agentur 5,7 Milliarden erhalten. Das ist eine Vertausendfachung! Was machen Sie mit dem Geld?
Ehrlich gesagt: Als 5,7 Milliarden anvisiert wurden, lebten wir noch in anderen Zeiten, vor Corona, vor dem Krieg in der Ukraine. Ich bin sicher, dass wir nicht so viel Geld zur Verfügung haben werden. Aktuell sind wir bei weniger als einer Milliarde. Damit werden Mitarbeitende und deren Ausrüstung bezahlt, wir müssen IT-Systeme entwickeln, Satellitenbilder kaufen. Und nicht zuletzt: Wenn Frontex die Rückführungsflüge für die Mitgliedstaaten durchführt, müssen wir die Flugzeuge dafür chartern.

In den letzten Jahren hat Frontex vor allem für Negativ-Schlagzeilen gesorgt. Der Agentur wird vorgeworfen, bei illegalen Pushbacks nicht nur weggeschaut, sondern diese sogar vertuscht zu haben. Was sagen Sie dazu?
Respekt und die Förderung der Grundrechte sind für Frontex essenziell, nicht nur auf dem Papier. Wir haben auch eine Infrastruktur geschaffen, die das sicherstellt. Beispielsweise mit einem Beratungsgremium, dem 15 NGOs und internationale Organisationen angehören. In der Agentur selbst haben wir Grundrechtsbeamte, Grundrechtsbeobachter auf dem Feld, eine Menschenrechtsstrategie und Aktionspläne. Auch der Verwaltungsrat diskutiert diese Fragen ständig. Aber Sie haben recht: Das alles klingt gut, aber in der Wirklichkeit ist es das nicht immer.

Das heisst?
Der Verwaltungsrat musste sich in den vergangenen zwei Jahren intensiv mit dem Vorwurf illegaler Pushbacks befassen. Und wir haben festgestellt: Im Grossen und Ganzen funktioniert das System. Aber es hat tatsächlich Lücken, einige der Mechanismen wurden nicht richtig umgesetzt. Wir haben tatsächlich ein Problem. Aber wir haben auch Massnahmen ergriffen, um diese zu lösen. Aber lassen Sie mich etwas hinzufügen …

Bitte!
Zuerst: Es gibt keine rechtliche Definition, was ein Pushback ist. Und glauben Sie mir, es ist nicht einfach schwarz-weiss. Ja, es gab Ereignisse, da wurde absolut falsch gehandelt. Aber nicht jede Rückweisung an der Grenze ist ein Pushback. Und diesen hybriden Bedrohungen machen alles noch komplizierter. Mindestens zwei Nachbarstaaten der EU, Belarus und die Türkei, benutzen illegale Migration, um ihre Interessen gegenüber der Union durchzusetzen. In diesem Umfeld zu arbeiten, ist nicht einfach.

Aber Sie stimmen zu, dass es sich um einen illegalen Pushback handelt, wenn die griechische Küstenwache ein Schlauchboot mit Flüchtlingen stoppt, den Motor demontiert und das Boot dann wieder in türkische Gewässer schleppt? Und dass es nicht geht, wenn Frontex da zuschaut?
Absolut. Und darum hat der Verwaltungsrat eine interne Arbeitsgruppe gebildet, die sich sehr ernsthaft um diese Vorwürfe gekümmert hat. Nachdem einige Unregelmässigkeiten entdeckt wurden, hat der Verwaltungsrat Massnahmen beschlossen, die das sofort und klar verbessert haben. So ist es heute nicht mehr möglich, solche Ereignisse zu verstecken.

Recherchen der «NZZ am Sonntag» legen etwas anderes nahe. An der griechisch-türkischen Landesgrenze soll es immer noch zu Pushbacks kommen, sogar solchen mit Todesfolge. Doch in den Frontex-Berichten tauche kein solcher Fall auf. Wie kann das sein?
Ich kenne diese konkreten Fälle nicht, und es ist schwierig, diese zu kommentieren. Ich bin jedoch überzeugt, dass Frontex über ein ausreichend robustes System verfügt, um sie angemessen zu bewerten – und, wenn nötig, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass es nicht zu systematischen Verstössen kommt. Ich gehe davon aus, dass die mutmasslichen Verstösse bereits behördlich in der Agentur bearbeitet werden und gegebenenfalls entsprechende Aufklärungen oder Massnahmen folgen.

Langjährige Grenzerfahrung

Der Slowene Marko Gašperlin (59) sitzt seit der Frontex-Gründung 2005 im Verwaltungsrat der europäischen Grenzschutzagentur. Seit 2016 präsidiert er das Gremium. Der studierte Politikwissenschaftler war einst Leiter der slowenischen Grenzpolizei und ist heute stellvertretender Direktor der Direktion der uniformierten Polizei im Innenministerium. Er ist geschieden, hat drei erwachsene Kinder, fünf Enkelkinder und lebt in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana.

Marko Gašperlin im Videocall mit Blick.
Screenshot

Der Slowene Marko Gašperlin (59) sitzt seit der Frontex-Gründung 2005 im Verwaltungsrat der europäischen Grenzschutzagentur. Seit 2016 präsidiert er das Gremium. Der studierte Politikwissenschaftler war einst Leiter der slowenischen Grenzpolizei und ist heute stellvertretender Direktor der Direktion der uniformierten Polizei im Innenministerium. Er ist geschieden, hat drei erwachsene Kinder, fünf Enkelkinder und lebt in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana.

Die EU-Anti-Betrugsbehörde Olaf hat ebenfalls Beweise für fehlerhaftes Verhalten des Frontex-Managements um Direktor Fabrice Leggeri gefunden. Das zumindest legen Schilderungen aus dem EU-Parlament nahe, denn der Bericht ist geheim.
Lassen Sie mich vorausschicken: Auch das Parlament, der Ombudsmann und der EU-Rechnungshof haben sich mit den Vorwürfen befasst. Sie haben kein schwerwiegendes Verschulden gefunden, aber dennoch einige Empfehlungen gemacht. Das zeigt: Das System funktioniert, es wird hingeschaut. Zum Olaf-Bericht kann ich leider nichts sagen: Denn wie Sie sagten, ist dieser vertraulich. Zudem wurden die drei Agentur-Mitarbeiter, denen Vorwürfe gemacht werden, vom Verwaltungsrat noch nicht angehört. Diese Anhörungen finden diese Woche statt.

Frontex-Direktor Fabrice Leggeri wird persönlich für die Vertuschung von Frontex verantwortlich gemacht. Ist er noch tragbar?
Wie ich schon sagte: Dazu kann ich mich nicht äussern.

Dann anders gefragt: Sind Sie aufgrund der Ihnen vorliegenden Informationen besorgt oder überzeugt, dass Frontex so funktioniert, wie sie sollte?
Stand heute und für die Zukunft kann ich versichern: Die Agentur macht ihre Arbeit vorschriftsgemäss. Für die Vergangenheit kann ich das nicht sagen.

In der Schweiz wird die Beteiligung an Frontex sehr kontrovers diskutiert, wir stimmen im Mai darüber ab. Vielen ist es nicht wohl dabei, noch mehr Millionen an eine Organisation zu zahlen, die im Verdacht steht, Menschenrechte zu verletzen. Können Sie das verstehen?
Bei der Abstimmung geht es um eine Schweizer Angelegenheit, in die ich mich nicht einmische. Aus ganz persönlicher Sicht kann ich höchstens wiederholen: Wenn wir innerhalb der Schengen-Staaten so wenig Grenzen wie möglich wollen, müssen wir die Aussengrenze besser schützen. Davon bin ich überzeugt.

Sie wollten schon vor zwei Jahren 40 Beobachter für die Einhaltung der Grundrechte einstellen. Diese sind immer noch nicht operativ tätig.
Ja, wir sind tatsächlich in Verzug, aus verschiedenen Gründen. Im Laufe des Jahres sollten die 40 Beobachter aber vollzählig sein. Und es sollen in den kommenden Jahren noch mehr werden. Ich versichere Ihnen: Wir nehmen die Menschenrechte nicht auf die leichte Schulter.

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