Die Kündigung traf Claudia H.* (60) aus heiterem Himmel. Sie liebte ihre Arbeit als Deko-Chefin eines Warenhauses, leitete ein Team, das Feedback war stets positiv. 2020 dann die Entlassung – Sparmassnahmen.
Wenig später fand Frau H. zwei Stellen mit einem Pensum von total 30 Prozent; eine Vollzeitstelle suchte sie zwei Jahre lang vergeblich.
H. setzte ihre Hoffnung in die Überbrückungsleistung (ÜL). Das Gesetz über die Notrente war im Juli 2021 in Kraft getreten; es soll verhindern, dass ältere Arbeitslose kurz vor ihrer Pensionierung in die Sozialhilfe abrutschen. Doch die Behörden lehnten H.s Gesuch ab. Der Grund: ein Erbverzicht aus dem Jahr 2017.
Verzicht auf Erbe wegen Mutter
Tatsächlich hatten H. und ihr Bruder beim Tod des Vaters auf ihren Erbanteil verzichtet. «Sonst hätte unsere 90-jährige Mutter ihr Haus verkaufen müssen, um uns auszuzahlen», sagt H. Die Behörden rechneten ihr die Summe als Vermögen an – womit es über dem Schwellenwert von 50'000 Franken liegt. Denn Anspruch auf die Notrente hat nur, wer ausgesteuert und älter als 60 Jahre ist, 20 Jahre lang gearbeitet hat und nicht mehr als 50'000 Franken Vermögen hat.
Theoretisch könnte H. dieses Jahr erneut ein ÜL-Gesuch einreichen: Der Wert des Erbverzichts nimmt jedes Jahr um 10'000 Franken ab, womit H.s Vermögen bald unter den gesetzlichen Schwellenwert fallen würde. Doch weil sie während ihrer zweijährigen Arbeitslosigkeit einen Zwischenverdienst fand, gilt sie nicht als ausgesteuert. Damit entfällt der Anspruch auf die ÜL – auch wenn Frau H. von der Arbeitslosenkasse künftig lediglich 1500 Franken pro Monat bekommt. Das findet sie ungerecht: «Ich würde jedem, der mit 58 Jahren arbeitslos wird, raten, dass er seine Mutter auf die Strasse stellt, das Erbe verprasst und keinen Zwischenverdienst annimmt», sagt sie sarkastisch.
Auch Goran D.* (62) hoffte auf die Notrente. Er arbeitete bis zum Alter von 58 Jahren als Buschauffeur, dann zwang ihn eine Krankheit, sein Pensum zu reduzieren. Wenig später wurde ihm gekündigt.
Absurde Berechnung der Behörden
D. beschloss, sich selbständig zu machen und gründete ein Unternehmen. Doch die Firma ging in Konkurs – ein grosser Teil seines Ersparten war damit vernichtet. D. meldete sich beim RAV an, verschickte Bewerbung um Bewerbung. Ohne Erfolg. Nachdem er ausgesteuert worden war, stellte er einen Antrag auf Überbrückungsleistung. Die Behörden lehnten auch sein Gesuch ab. Grund: D. besitzt eine Wohnung in Kroatien.
Zwar beträgt deren Steuerwert lediglich 40'000 Franken. Doch «als Verkehrswert ausländischer Liegenschaften dient der dreifache Steuerwert», teilten die Behörden mit. Damit erhöht sich die Berechnungsgrösse der Wohnung auf 120'000 Franken. Für D. eine absurde Kalkulation. Er reichte Einsprache ein.
Die Behörden liessen sich mit ihrer Antwort mehr als ein Jahr Zeit. In ihrem nächsten Schreiben jedoch forderten sie von D. stapelweise Formulare: den Kaufvertrag für die Wohnung, einen kroatischen Katasterauszug, eine Schätzung des Verkaufswerts der Wohnung sowie ein Dutzend weiterer Unterlagen.
Auch fiktives Vermögen wird angerechnet
«Ich habe diese Papiere nicht», sagt D. Inzwischen musste er die Wohnung verkaufen, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren; Sozialhilfe beantragen will er nicht. «Ich kam mit 20 Jahren in die Schweiz, habe hier 40 Jahre lang gearbeitet, nun gehe ich als Krüppel und ohne nichts», sagt er verbittert. Er plant, nach seiner Frühpensionierung nach Bosnien auszuwandern. «Mit den Behörden will ich nichts mehr zu tun haben.»
Ein Blick in die Statistiken legt offen: Fälle wie jene von H. und D. sind keine Seltenheit. Viele Menschen glauben, Anspruch auf die ÜL zu haben – und scheitern an den strengen Anforderungen.
Zahlen aus den Kantonen Aargau und St. Gallen zeigen: Nur jeweils ein Drittel der Gesuchsteller erhält eine Notrente. In Bern ist es gar ein Viertel. Denn bei vielen gilt die Vermögensobergrenze als überschritten. Selbst wenn es, wie bei Frau H., um fiktives Vermögen geht.
«Anpassung der Zulassungskriterien nötig»
Die Rechtslage sei klar, sagt Michael E. Meier (35), Rechtsanwalt und Oberassistent für Sozialversicherungsrecht an der Universität Luzern. «Ein Erbverzicht gilt als Vermögensverzicht – selbst wenn er aus hehren Motiven geschieht.» In Bezug auf den Zwischenverdienst, der Frau H. von der Notrente ausschliesst, meint der Jurist hingegen: «Das könnte eine Lücke sein, die der Gesetzgeber so nicht bedacht hat.»
Heidi Joos (68) formuliert es schärfer: «Eine Anpassung der Zulassungskriterien ist dringend nötig.» Sie ist Gründerin des Verbands Avenir 50 plus, der sich für ältere Arbeitslose einsetzt. «Es kann nicht sein, dass die Leute ihre Pensionskasse anzapfen müssen.»
Joos hat drei Vorschläge: Erstens sollten auch jene, die vor dem 60. Altersjahr ausgesteuert wurden, Zugang zur Notrente haben. «Ich sehe täglich, wie viele Menschen das betrifft.» Zweitens dürfe die dritte Säule nicht zum Vermögen gezählt werden. Drittens sei es falsch, wenn die Betroffenen ihr Auto verkaufen müssten.
Mit der Frage, ob es bei der ÜL Anpassungen braucht, setzt sich derzeit der Bund auseinander: Eine Evaluation ist für dieses Jahr angekündigt. Eine grundsätzliche Reform ist allerdings kaum zu erwarten – hierfür müsste das Parlament aktiv werden.
* Name geändert