Es sind locker sieben Meter. Vielleicht auch acht. Tief unten in der Bahnhofshalle wuseln die Pendler. Wer von hier oben hinabstürzt, landet in den Nachrichten.
Aber dies ist keine Zeit für Zauderer. Schon klicken die Karabinerhaken, schon stehen die jungen Frauen jenseits der Brüstung, schon seilen sie sich ab.
Für die Berner Polizei kam die Aktion der Klimaaktivistinnen zu schnell. Viel zu schnell. Deshalb schlendern die Beamten nun auf Nino Preuss (16) zu. Seine Mitstreiterinnen haben längst wieder Boden unter den Füssen; das Transparent zum Klimastreik bewegt sich noch, aber es hängt – drei Wochen vor der Abstimmung über ein CO₂-Gesetz, das die einen als zu extrem und Etikettenschwindel betrachten, die anderen als zu lasch und sowieso längst überfällig. Umfragen zufolge wird es am 13. Juni knapp.
Für die Medien steht bereits fest: Auf Corona folgt das Klima. Anders gesagt: Weltuntergang folgt auf Weltuntergang. Unübersehbar die Plakatwände der Öllobby und SVP. Und auch die Klimajugend meldet sich wieder, am Freitag demonstrierten am Strike for Future landesweit Zehntausende, vor allem Junge wie Nino Preuss.
Der Zürcher Gymnasiast, von dem die Berner Polizei nach der Abseilaktion nun einen Ausweis verlangt, ist in Eile. Generell gesehen. «Wir haben verdammt noch mal zu wenig Zeit und müssen jetzt handeln!»
Die Zeit wird knapp
Wissenschaftlich betrachtet sei klar: «Wir haben noch knapp zehn Jahre, um unsere Emissionen auf netto null zu bringen, damit unsere Zukunft nicht ein ökologisches Desaster wird.» Der Teenager mit dem sanften Gesicht zeichnet ein düsteres Bild: Temperaturanstieg, höherer Meeresspiegel, Ressourcenkrieg, Flüchtlingsströme ...
Das neue CO₂-Gesetz geht ihm viel zu wenig weit. Es sei nur ein kleiner erster Schritt. Was er sagt, gilt für die gesamte Klimabewegung: In der Deutschschweiz versagt sie dem CO₂-Gesetz die Unterstützung, die Romands kämpfen sogar dagegen.
Im Dezember 2018 war Preuss beim ersten Klimastreik in Zürich dabei, im Mai 2020 hing er 15 Meter über dem Zürcher Messegelände. So schnell ging das. Bei manchen Aktionen seien die Eltern zwar etwas geschockt. «Aber ich werde unterstützt.» Meist verrät er ihnen, was gerade ansteht.
«Klar bin ich verzweifelt, spüre ich Ohnmacht», erklärt er seine Gemütslage, aber: «Nichtstun ist keine Alternative.» Er will sich nicht in 20 Jahren fragen müssen, warum er untätig geblieben ist.
«Wir waren ja früher auch so», sagt Josef Madlener. Der Patron der Madlener Apparatebau AG, zehn Mitarbeiter, seit etwa 30 Jahren im eigenen Geschäft – so genau weiss er das gerade nicht mehr –, steht in seiner Werkhalle in Dietikon ZH und kommt schwer ins Sinnieren.
Als er jung war und Dinge wagte wie Reisen per Autostopp, hat er sich geschworen: «Wenn ich einmal so denke wie die Alten, ist es vorbei.» Er sagt es in seinem Vorarlberger Singsang – und ist nun 61 Jahre alt. Alles nicht so einfach.
«Bürokratie ohne Ende»
Madlener ist gegen das CO₂-Gesetz, wie er versichert, nicht gegen CO₂-Reduktion generell, aber das Gesetz ist in seinen Augen «extremer politischer Aktionismus».
Der Kleinunternehmer befürchtet eine «Bürokratie ohne Ende», je kleiner ein Betrieb sei, desto schlimmer treffe es diesen. «Ein riesiges Regelwerk, 40 Seiten lang, Hunderte Paragrafen, und am Ende muss man alles ausdeutschen.» Madlener glaubt nicht, dass er das kann, nur die Grossen könnten reagieren.
Standard-Aufträge gibt es für ihn nicht. Er baut Spezialanfertigungen, ob Karretten oder Teile für die Pharmabranche. Weil er keine eigene Produktion hat, kauft er das Material ein. Meist sind es Einzellieferungen, da treffe ihn die neue CO₂-Abgabe mehrfach. «Bei unseren vielen Einzelteilen summieren sich die Transportpreise.»
Kommentar zum Klimastreik
Wie viel ihn die Abgabe kosten wird, weiss er nicht. Das sei ja genau das Schöne an dem Gesetz, sagt er spöttisch. Alles sei vage formuliert, diffus delegiert, konkrete Kosten würden kaum genannt. «Vielleicht 10'000, vielleicht 20'000 Franken im Jahr», schätzt er. Seine Marge von zwei bis drei Prozent wäre weg. «Wir sterben nicht sofort», sagt Madlener. Auf Dauer aber geriete er in Schieflage. Und wie er sich als Kleinbetrieb von der Abgabe befreien könne, da bleibe der Bundesrat sehr vage.
Dem Gewerbe sollte es einfacher gemacht werden, sich selbst zu helfen, findet er. Wer sich eine Fotovoltaikanlage aufs Dach montieren wolle, müsste eine erleichterte Baubewilligung erhalten: «Stattdessen kommt zuerst der Denkmalschutz und dann noch die Vogelwarte Sempach.»
Um CO₂ zu reduzieren, geht Madlener eigene Wege. Seine Werkhalle und das Lager sind unbeheizt, auch im Winter. Dafür hat er tüchtig isoliert, nicht zwölf Zentimetern, sondern 20, «ist ja die gleiche Arbeit», sagt er. Privat fährt er Elektroauto und macht Wohnwagen-Ferien in der Schweiz, «höchstens mal nach Vorarlberg».
Polizei planlos
Im Bahnhof Bern haben die Polizisten jetzt alle Personalien aufgenommen. Die Beamten schimpfen ein wenig über die Jugend, gefährlich sei ihre Aktion gewesen. Als es darum geht, wie das Transparent wieder herunterkommt, schlägt ein Bahnpolizist den Jungen tatsächlich vor: «Ihr steigt hoch oder die Feuerwehr holts runter.» Ein Widerspruch, der die Aktivistinnen in Ratlosigkeit stürzt.
«Ich übernehme die Kosten für die Aktion», unterbricht eine Frau die Grübelei. Sie sei die Schwester des Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried, sagt die Unbekannte und finde die Aktion super. Sie streckt den jungen Frauen ihre Karte hin, die Polizisten blicken verdattert.
Es dauert ein wenig, bis die Jungen so richtig begreifen, dass ihnen gerade jemand das Scheckbuch weit geöffnet hat. Dann strahlen sie und sagen: «Der Feuerwehreinsatz kostet zweitausend Franken. Oder mehr.» Die Frau zuckt nicht mit der Wimper.
Nicht alle Herzen fliegen der Klimajugend zu. Nino Preuss weiss, dass Menschen im Klimakampf um ihre Existenz bangen. Deshalb müsse der Wandel sozial gerecht erfolgen, erklärt er, «ohne unsere Emissionen im Ausland zu entsorgen und ohne Verlierer zu hinterlassen». Aus Bohrarbeitern sollen Solartechniker werden. Schwerter zu Pflugscharen, sagte man früher.
Globalisierung überdenken
In der Werkhalle der Firma Madlener gehts ebenfalls um die grossen Linien. «Man muss auch die radikalen Fragen zulassen», meint der Patron. «Wir müssen die Globalisierung überdenken, unseren Transport neu organisieren, sonst ist dieses CO₂-Gesetz eine Farce», erklärt er. Alles sei ausgelagert worden und werde um die halbe Welt gekarrt, «dabei bräuchten wir die Produktion wieder hier». An die Klimajugend gerichtet sagt Madlener: «Überlegt, auf was ihr im nächsten Jahr bereit seid zu verzichten!» Genau genommen ist es keine Frage.
«Ein schöner Gedanke», findet Klimaaktivist Preuss, aber durch individuelle Begrenzung sei nur wenig zu ändern. Das Hauptproblem seien die 100 grössten Firmen – und die systemischen Faktoren.
Drei Tage sind seit der Abseilaktion vergangen, Regen und Pandemie konnten dem Klimastreik nicht gerade zum Besucherrekord verhelfen, die Zeitungen orakeln bereits, ob der Klimajugend die Luft ausgehe.
«Ich habe jedenfalls nicht vor aufzuhören, bevor wir unser Ziel erreicht haben», sagt Nino Preuss.
Er ist sechzehn Jahre alt. Und gibt uns wie gesagt noch knapp zehn Jahre.