1848 wird die Schweiz geboren
Ein Kind des Krieges

Die moderne Schweiz geht aus einem Bürgerkrieg hervor und darum ist Wilhelm Tell so wichtig. Wie die Schweiz 1848 entstand.
Publiziert: 01.01.2023 um 00:55 Uhr
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Im Sonderbundskrieg von 1847 besiegen die liberalen Kantone die konservativen.
Foto: Keystone
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Danny SchlumpfRedaktor SonntagsBlick

Der Bundesbrief von Anfang August 1291 ist echt. Es handelt sich allerdings um ein einfaches Landfriedensbündnis zwischen Uri, Schwyz und Nidwalden – eine «Eidgenossenschaft», wie es damals viele gab. Erst ab dem 15. Jahrhundert bildet sich um die Waldstätte, Luzern, Zürich und Bern ein breites Bündnisnetzwerk im Raum der heutigen Schweiz.

Aber nicht alle Orte sind direkt miteinander verknüpft und sie verbünden sich auch mit anderen. In wechselnden Allianzen führen sie Kriege, streiten um die Religion, exportieren Käse, Calvinismus und Söldner. Bis 1798 gibt es keinen Bundesvertrag, der alle Kantone zusammen erfasst. Erst nach dem Einmarsch der Franzosen erhält die Allianz eine Verfassung und wird zur Helvetischen Republik.

Napoleon muss schlichten

Doch der aufklärerische Einheitsstaat hat nicht lange Bestand. Kaum sind die fremden Truppen abgezogen, kommt es zum Bürgerkrieg. Napoleon muss schlichten und zieht der helvetischen Zentralgewalt mit der Mediationsverfassung von 1803 entnervt die Zähne.

Nach Napoleons Sturz schliessen die Kantone 1815 einen Bundesvertrag souveräner Kleinstaaten und lassen sich von den europäischen Grossmächten den Status einer neutralen Pufferzone bestätigen. Tatsächlich führen sie keine Kriege mehr gegen fremde Mächte. Stattdessen brechen sie 1847 erneut einen Bürgerkrieg vom Zaun.

Es ist ein Konflikt zwischen katholisch-konservativen Kantonen, die ihre Eigenstaatlichkeit verteidigen, und ihren liberalen Gegenspielern, die aus dem losen Staatenbund einen Bundesstaat machen wollen. Konfessionelle Gegensätze befeuern den Streit: Als der Aargau 1841 die Klöster auflöst und damit den Bundesvertrag von 1815 bricht, reagiert das katholische Luzern mit der Rückberufung des Jesuitenordens – der polarisierenden Verkörperung der Gegenreformation.

Bürgerkrieg 1847

Darauf überfallen radikale Freischärler die Luzerner, die sich schliesslich mit den anderen katholisch-konservativen Kantonen Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis zu einer «Schutzvereinigung» verbinden. Für ihre liberalen Gegner aber ist das ein «Sonderbund», der gegen den Bundesvertrag verstösst. Im November 1847 kommt es zum Bürgerkrieg, den die liberalen Truppen unter General Henri Dufour nach 27 Tagen für sich entscheiden.

Die Sieger setzen den Bundesstaat durch. In einer Volksabstimmung sagt eine Mehrheit der Kantone Ja zur Bundesverfassung. Am 12. September 1848 erklärt die Tagsatzung die neue Verfassung für angenommen. Artikel 42 hält fest: «Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger.»

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Fortan schickt das Volk nach amerikanischem Vorbild Vertreter in den National- und Ständerat. Die Vereinigte Bundesversammlung wählt die sieben Bundesräte – bis 1891 ausschliesslich Freisinnige. Sie sind verantwortlich für die Verteidigung der Schweizer Interessen gegen aussen. Die Kantone hingegen behalten zentrale Kompetenzen wie Steuern, Schule, Polizei und Verkehr. Der Föderalismus, für den der Sonderbund kämpfte, spielt auch im neuen Bundesstaat eine zentrale Rolle.

Seit 1848 nur zwei Totalrevisionen der Verfassung

Die Verfassung enthält in sich die Möglichkeit zur Veränderung. Sie bleibt deshalb wandelbar und ist bis heute nur zweimal einer Totalrevision unterzogen worden, 1874 und 1999. Das «souveräne Volk» kann seit 1874 das Referendum und seit 1891 die Volksinitiative ergreifen. Doch dieses Volk ist kein homogener Akteur – weder ethnisch noch sprachlich-kulturell. Deshalb definiert sich die Republik inmitten von Monarchien als «Willensnation». Ihre Angehörigen versammeln sich um eine einheitsstiftende Ursprungslegende aus dem 15. Jahrhundert, die ihnen ein Deutscher neu erzählt: Friedrich Schillers 1804 uraufgeführtes Schauspiel «Wilhelm Tell» macht den Mythos vom wackeren Alpenjäger und dem Rütlischwur von 1291 weltbekannt.

Besonders wichtig für den jungen Nationalstaat, der die konservativen Kriegsverlierer einzubinden sucht: In der Legende geht die Schweiz aus einem Kampf freier Bauern gegen habsburgische Unterdrücker hervor – und nicht aus einem Bürgerkrieg. Darum wird 1891, als mit Josef Zemp der erste katholisch-konservative Bundesrat in Bern einzieht, auch nicht der 12. September zum Nationalfeiertag erklärt, sondern der 1. August. Die zentrale Chiffre der Schweiz heisst fortan 1291.

1848 markiert Geburt der demokratischen Schweiz

Doch historisch ist 1848 das entscheidende Jahr. Es markiert die Geburt des demokratischen Schweizer Verfassungsstaats – und des modernen Föderalismus, der den Kantonen eine starke Rolle neben der Zentralgewalt einräumt. Von dieser geteilten Souveränität im Bundesstaat profitiert die Schweiz bis heute, auch wenn in Krisensituationen nicht immer alles rundläuft.

2023 stellt sich dem Land die Frage, ob dieses Rezept nicht auch auf einer höheren Ebene funktionieren könnte: Wie viel Macht wollen die Eidgenossen an die EU abgeben, um weiterhin vom europäischen Binnenmarkt zu profitieren? Verheisst die Idee einer geteilten Souveränität auch international eine Chance – oder fährt die Schweiz besser, wenn sie wie Wilhelm Tell den Alleingang wählt?

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