Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die moderne Schweiz ist noch nicht modern genug

Vor 175 Jahren wurde aus der alten Eidgenossenschaft die erste heute noch bestehende demokratische Republik in Europa. Allerdings war mit dem neuen Bundesstaat die Welt nicht plötzlich in Ordnung. Bis heute gibt es Defizite.
Publiziert: 01.01.2023 um 00:56 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Die moderne Schweiz feiert ihr 175-Jahr-Jubiläum. Beziehungsweise: Sie tut es eben nicht. 1848 wurde aus der alten Eidgenossenschaft die erste heute noch bestehende demokratische Republik in Europa, doch die Liste der 2023 geplanten Jubiläumsanlässe ist superkurz: ein Bildband zum Parlamentsbetrieb, ein Tag der offenen Tür in verschiedenen Verwaltungsgebäuden, eine Kunstinstallation auf der Fassade des Bundeshauses.

Unser Knorz mit der eigenen Geschichte ist im wahrsten Sinne des Wortes legendär. Die Eidgenossenschaft glorifiziert sagenhafte Helden aus dem Mittelalter und ignoriert jene Persönlichkeiten, denen wir unseren Staat mit seinen funktionierenden Institutionen effektiv verdanken. Nicht einzelne Menschen stehen im Zentrum, sondern Ideale.

Dank einer solchen Mentalität sind die Schweizerinnen und Schweizer weniger anfällig dafür, sich einer einzelnen Führerfigur zu unterwerfen. Allerdings verhindert die Geschichtsvergessenheit wichtige Einsichten. Etwa jene, wie weltläufig inspiriert der Bundesstaat ist. Seine Gründung war geprägt von der europäischen Aufklärung, der amerikanischen Demokratie sowie der Französischen Revolution. Das Zweikammernsystem mit National- und Ständerat übernahm man aus den USA, der Bundesrat wurde nach dem Grundmuster der Pariser Verfassung von 1793 ausgestaltet. Und fünf der ersten sieben Mitglieder der Landesregierung hatten im Ausland studiert, wo sie die Ideen des Liberalismus verinnerlichten.

Ebenfalls keinen Platz in unserer Erinnerungskultur hat der Umstand, dass der Gründung des Bundesstaates jahrelange harte Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen vorausgegangen waren, die zuletzt sogar in einem Bürgerkrieg eskalierten.

Zur Auseinandersetzung mit der Schweizer Geschichte gehört indes auch dies: 1848
war der Staat keineswegs fertig gebaut. Vielmehr war er, bei aller Fortschrittlichkeit, extrem patriarchal und rassistisch. Zwar garantierte die neue Bundesverfassung: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.» Frauen und Juden waren von dieser Gleichheit freilich ausgeschlossen. Die Juden erhielten erst 1856 per Bundesbeschluss das Stimm- und Wahlrecht auf kantonaler wie eidgenössischer Ebene, nicht aber in den Gemeinden; die Frauen wurden bekanntlich noch während weit mehr als einem Jahrhundert vom politischen Leben kategorisch ferngehalten.

In den 1860er-Jahren kritisierte die Bewegung der Demokraten die Machtfülle von Leuten wie dem Zürcher Nationalrat, Regierungsrat und Eisenbahnmagnaten Alfred Escher. Die Demokraten wollten, in ihren eigenen Worten, «die bisherige Scheinsouveränität zu einer wirklichen und wahrhaftigen Volkssouveränität entwickeln» und erreichten ihren wichtigsten Erfolg 1874 mit der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums. Dass weitere 17 Jahre später das Instrument der Volksinitiative eingeführt wurde, war dann vor allem den Konservativen zu verdanken. Auf diese Weise integrierten sie sich in ebenjenen Bundesstaat, den sie lange Zeit bekämpft hatten.

Die Geschichte der modernen Schweiz ist die Geschichte der Emanzipation verschiedener Gesellschaftsgruppen. Sinn und Zweck einer Demokratie, die diesen Namen tatsächlich verdient, ist die Teilhabe all ihrer Einwohnerinnen und Einwohner. Womit auch gesagt ist: Diese Emanzipationsgeschichte ist keineswegs abgeschlossen. Heute zählt unser Land insgesamt 2,2 Millionen Ausländer, ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Davon sind 1,1 Millionen Niedergelassene im Erwachsenenalter, sie leben also seit mindestens fünf Jahren hier, ohne über irgendwelche politischen Rechte zu verfügen.

Wenn die Organisation Operation Libero jetzt eine Volksinitiative zur Einführung einer weniger restriktiven Einbürgerungspraxis ankündigt, entspricht dies zeitgemässem republikanischem und demokratischem Denken. Ein solches Anliegen ist natürlich sehr viel wichtiger als jede Festlichkeit zur Feier des Bundesstaates. Schade ist nur, dass weder der Bundesrat noch jemand im Parlament auf diese Idee gekommen ist, um das Jubiläumsjahr mit einer guten Tat zu begehen.

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