Das Stück beginnt mit einem Kuss. Es ist der wohl erste Bühnenkuss seit Ende der Pandemie. Ein wenig Freiheit ist zurück. Freiheit. Genau darum geht es in der Inszenierung von Milo Rau, dem ebenso berühmten wie kontroversen Regisseur: Was ist Freiheit – und wer verteidigt sie heute? Am Samstag feierte er im Schauspielhaus Zürich Premiere mit seinem «Wilhelm Tell».
1939 wurde Tell schon einmal am selben Ort aufgeführt. Die Inszenierung mit Heinrich Gretler gilt als Sternstunde des Schweizer Theaters, weil sie klar Stellung gegen Nazi-Deutschland bezog. Bis heute ist sie ein Symbol der Geistigen Landesverteidigung.
Auch die Inszenierung von Rau machte bereits vor der Premiere Schlagzeilen. Für den Blick schrieb Rau drei exklusive Essays – in der er das «Geschäftsmodell» Schweiz angreift.
In einer Guerilla-Aktion holte er zudem einen Schamanen ins Zürcher Kunsthaus, um den Neubau neben dem Theater von negativen Energien zu reinigen. Der Grund: Im Kunsthaus hängt die Kunstsammlung des Schweizer Waffenfabrikanten Emil G. Bührle (1890–1956), der mit Hitler-Deutschland geschäftete. An der Premiere des «Tell» prangt dann auch ein Transparent mit der Aufschrift «Hängt den Bührle an ein Schnürle» im Foyer des Schauspielhauses. Ein Slogan, der in den 80er-Jahren schon an der Fassade des besetzten Wohlgroth-Areals prangte.
Die Geschichte der Zwangsarbeiterin Irma Frei fesselte das Publikum
Wer ist eigentlich Tell und welche Bedeutung hat er in der heutigen Schweiz? Dieser Frage geht Rau mit Laienschauspielern in seinem Stück nach. Zehn Amateure stehen auf der Bühne: von der Schweizer Offizierin Sarah, die den Sans-Papiers Hermon heiratet, über den Behindertenaktivisten Cem, der sich Inklusionsagent Cems Bond nennt, bis zu Irma Frei, die als junge Frau Zwangsarbeit für den Waffenhersteller Bührle leisten musste – der eindrücklichste Auftritt des Abends. Als sie ihre Schicksalsgeschichte erzählt, wird es so still im Theatersaal, dass man eine Nadel zu Boden fallen hören würde.
Sie alle sind Tell. Frauen, Männer, ein Junge, Behinderte, Jäger, Sans-Papier oder eine Pflegefachfrau. Gessler tritt in Nazi-Uniform auf und begegnet dabei den Tells von heute in all ihren Formen.
Der Abschuss von Gessler wird mit dem Anstimmen der Nationalhymne in Form eines Gospels gefeiert. Die Schauspieler fordern zum Aufstehen und Mitsingen auf: «Die könnt ihr doch auswendig!» Für Schriftsteller Adolf Muschg (87), der im Premierenpublikum sass, ein entscheidendes Element: «Wo ist da meine Freiheit? Wenn wir da alle miteinander in die Hände klatschen, ist das nicht schon wie am Parteitag?»
Das sei typisch an Rau, es gebe keine vierte Wand, also den Vorhang, der Bühne und Publikum trenne: «Man kann sich nicht in seine Zuschauerrolle zurückziehen, sondern ich bin da, von allem, was läuft, mitbetroffen.» Die Inszenierung hat den Schriftsteller begeistert: «Ich dachte zuerst, aus so einer Melange kann nichts werden, aber das war vollkommen zwingend. Es gibt keine Eindeutigkeit – in allen wichtigen Sachen des Lebens. Und doch wird in ganz entscheidenden Situationen von uns Eindeutigkeit verlangt.»