Foto: SIGGI BUCHER

Milo Rau über seine «Tell»-Inszenierung im Schauspielhaus Zürich
Kann man ein Land hassen?

Der umstrittenste Theatermacher inszeniert die legendärste Geschichte auf der wichtigsten Bühne der Schweiz. Im Blick schreibt Milo Rau (45) exklusiv im Vorfeld zu seiner «Wilhelm Tell»-Inszenierung im Schauspielhaus Zürich Ende April.
Publiziert: 25.03.2022 um 00:20 Uhr
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Für seinen «Wilhelm Tell» holt Milo Rau unterschiedliche Menschen auf die Bühne, die etwas zum Thema Freiheit sagen.
Foto: Siggi Bucher
Milo Rau

Vor einigen Jahren veröffentlichte ich in einer Zeitung eine Kolumne, in der ich den Schweizer Rohstoffhandel im Kongo kritisierte. Kurz darauf warf mir die «Weltwoche» «masslose Schweizbeschimpfungen» vor. Als ich 2013 die Einreiseerlaubnis nach Russland verlor, weil ich mit der regimekritischen Punkband Pussy Riot ein Projekt gemacht hatte, unterstellten mir russische Medien «Russlandhass». Ich erinnere mich an ein Bild von mir in einer Zeitung: «Ich hasse Russland» stand in roten Lettern darüber.

Kann man ein Land hassen? Man kann, glaube ich, Regierungen und ihre Politik hassen, man kann Firmen und Parteien hassen – und leider auch Menschen. Aber Länder? Vielleicht ist die Idee, man würde ein Land hassen können, das eigentliche Problem. Denn die Wirklichkeit von Ländern und unseren Beziehungen zu ihnen ist viel unreiner und wirrer, als dass «Hass» eine passende Beschreibung wäre. Beispielsweise denke ich an nichts lieber als an meine Zeit in Russland, auch wenn ich unter erbärmlichen Umständen aus dem Land gejagt wurde. Ich vermisse die irre Kälte des russischen Winters, die Endlosigkeit Moskaus, die Verrücktheit und den Mut der russischen Bürger, die so viele Jahre der Diktatur erlebt haben.

Gleichzeitig bekämpfe ich natürlich den Ukraine-Krieg Putins, wo ich kann. Nicht seit einem Monat, sondern seit bald acht Jahren, als der Krieg begann. Meine russischen Freunde demonstrieren auf den Strassen Moskaus und Hunderter anderer Städte, mit einer Selbstlosigkeit und einer Entschiedenheit, die bei uns nicht existieren. In dem Moment, in dem ich das schreibe, sind viele emigriert, andere sitzen im Gefängnis. Ihre Herzen brennen für ihr Land, aber der Vorwurf gegen sie lautet: «Russlandhass».

Ich inszeniere einen Volks-Tell

Kann man ein Land richtig lieben? Seit zwei Wochen probe ich an Friedrich Schillers «Wilhelm Tell», in dem die Schweiz bekanntlich als Land der Freiheit verherrlicht wird. Ich inszeniere einen Volks-Tell, einige Rollen werden von Schauspielern verkörpert, die meisten aber von normalen Bürgern. Da ist etwa Irma, eine ehemalige Zwangsarbeiterin beim Waffenhersteller und Raubkunst-Sammler Bührle. Da ist Cyrill, ein Jäger aus der Innerschweiz, oder Cem, ein Behindertenaktivist. Und da ist Vanessa, eine Pflegerin.

Wir Intellektuellen lieben es bekanntlich, uns über minimale Meinungsverschiedenheiten zu echauffieren. Ein Grossteil unserer Zeit vergeuden wir damit, uns Fehler vorzuwerfen, die nur unter dem Vergrösserungsglas der Rechthaberei überhaupt sichtbar werden. Wie anders verhält es sich bei all den Laiendarstellern. Die Menschen, die sich auf unseren Castingaufruf gemeldet haben, haben gelernt, Widersprüche auszuhalten, in ihnen zu leben und zu atmen – und sich doch täglich gegen sie zu wehren.

Vanessa etwa, die Pflegerin, sagt: «Du hast kein Problem mit Andersdenkenden, wenn du wie ich in der Pflege arbeitest.» Vanessa kämpft um mehr Zeit für ihre Patienten, also für mehr Pflegestellen. Ob die Menschen, die vom unterfinanzierten Pflegesystem allein gelassen werden, SP oder SVP wählen, das ist ihr egal, weil es keine Rolle spielt. Irma, die in den 50ern als Siebenjährige ihrer Familie weggenommen wurde und Anfang der 60er-Jahre drei Jahre lang Zwangsarbeit leisten musste für Bührle, zerbrach nicht an ihren Erfahrungen. Sie fordert Gerechtigkeit und Entschuldigung, klar. Aber sie will kein Opfer sein und ist stolz darauf, dass sie trotz ihrer verlorenen Kindheit und Jugend ein erfülltes Leben geführt hat.

Putin wird an «Russland» scheitern

Selbstbewusst stehen diese Menschen auf der Bühne, jede eine Tellin, jeder ein Tell. Wie sie hasse ich all diese Firmen, dieses System, das die Würde nicht nur der Schweizer, sondern so vieler Menschen in der Welt mit Füssen tritt. Ich hasse die Verlogenheit unseres Landes, das bei vielen Verbrechen gerade so weit abseits steht, um entspannt den Gewinn einzustreichen. Denn in einer globalisierten Welt ist es egal, ob man in der Ukraine oder im Kongo einmarschiert – oder einfach nur davon profitiert. Und ja, ich hasse diesen Teil der Schweiz, der Menschen nur so lange respektiert, bis sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.

Irma und Vanessa werden, so denke ich, Bührle und all die anderen Gesslers der modernen Schweiz das Fürchten lehren – sanft und entspannt. Denn das Tragische, das wusste schon Schiller, ist nur schön, wenn es ohne Selbstgerechtigkeit und Eitelkeit daherkommt. Nicht, um das eigene Leid anderen zu zeigen und dafür einen Lohn zu fordern, sondern um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen – in diesem Fall die Schweiz.

Gerade telefonierte ich mit einer befreundeten russischen Künstlerin. Sie ist nach Westeuropa geflohen, wo sie ihren Kampf gegen Putins verbrecherische Politik fortsetzt, gemeinsam mit ihren ukrainischen Kollegen. Wie die USA beim Vietnam-Krieg wird der militärische Aggressor am Ende genauso am äusseren wie am inneren Druck zerbrechen. Putin wird an «Russland» scheitern, wie schon die Zaren und die Stalinisten vor ihm. Denn «Russland» oder die «Schweiz»: Sie sind nur so gut oder schlecht, wie wir es wollen und zulassen.

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