Der bedeutendste Bühnen-Regisseur der Schweiz schreibt exklusiv im Blick
Milo Rau macht uns alle zu Wilhelm Tell

Der Schweizer Milo Rau (45) ist der angesagteste Theatermacher Europas und bringt im legendären Zürcher Schauspielhaus «Wilhelm Tell» auf die Bühne. Speziell für den Blick schreibt er über die Aktualität des Stoffs.
Publiziert: 25.03.2022 um 00:18 Uhr
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Auf der Pfauenbühne des Schauspielhauses Zürich sind nun Proben für «Wilhelm Tell».
Foto: Siggi Bucher
Daniel Arnet

Wo er auftritt, eckt er an, wen er trifft, den stösst er vor den Kopf: Der Schweizer Milo Rau (45) ist ein unbequemer Theatermacher. Aber er ist der wohl bedeutendste Bühnenregisseur der Gegenwart: Keiner pflügt das herkömmliche Guckkastentheater derart um, keiner lässt so eindrucksvolle neue Blüten spriessen.

Sein Trick: Er präsentiert dem Publikum keine Fantasieverse eines Autors oder einer Autorin, sondern holt die Wirklichkeit auf die Bretter, die die Welt bedeuten: 2009 inszeniert Rau in Berlin «Die letzten Tage der Ceausescus», den Prozess gegen das letzte Diktatorenpaar Rumäniens.

Ein zutiefst moralischer Mensch

2012 konfrontiert er in Weimar (D) das Publikum mit «Breiviks Erklärung», indem er eins zu eins die Prozessaussagen des norwegischen Massenmörders wiedergibt. Und 2013 klagt er in «Die Zürcher Prozesse» die «Weltwoche» im Neumarkttheater an und lässt die Zuschauerinnen und Zuschauer richten.

«Das Theater ist ein stalinistisches Medium», sagte Rau vor ein paar Jahren. «Man kann das Publikum stundenlang mit einem Stoff konfrontieren, ohne dass es die Chance hat, sich dem zu entziehen.» Bei «Breiviks Erklärung» etwa unterbrach er die Aufführung beim geringsten Geräusch. Am Schluss hüstelte niemand mehr.

Milo Rau ist ein zutiefst moralischer Mensch, der mit den Mitteln des Theaters aus der Welt einen besseren Ort machen will. 2007 gründet er für die Produktion und Auswertung seiner künstlerischen Arbeiten die Theater- und Filmproduktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder, das internationale Institut für politischen Mord.

Da passt der Landvogt-Mörder Tell bestens ins Konzept. Rau inszeniert ihn Ende April dort, wo Oskar Wälterlin (1895–1961) den grossen Schauspieler Heinrich Gretler (1897–1977) als Armbrustschützen just 1941 zum Zeichen gegen Nazi-Deutschland auftreten liess: auf der legendären Pfauenbühne des Zürcher Schauspielhauses.

Road Trip auf den Spuren Tells

«Wilhelm Tell nach Friedrich Schiller» lautet die Ankündigung des Theaters. Aber natürlich orientiert sich Rau auch hier weniger an den Versen der Vergangenheit, heftet sich stattdessen an die Fersen der Gegenwart und macht aus seiner Inszenierung einen «Road Trip durchs Land auf Wilhelm Tells Spuren».

Ob Feministinnen, Trumpisten, Kapitalismuskritikerinnen oder Impfgegner: In den letzten Jahren demonstrierten verschiedene Gruppen für ihre Freiheit. «Noch nie haben so viele Menschen gleichzeitig öffentlich ihr Recht auf Selbstbestimmung eingefordert», schreibt Rau. «Und noch nie waren sie so unterschiedlich aufgestellt.»

Irma, die Zwangsarbeiterin für Bührle; Cyrill, der Jäger aus der Innerschweiz; Cem, der Behindertenaktivist; oder Vanessa, die Pflegerin: All diese in der Schweiz lebenden Menschen rekrutierte Rau in einem Casting und bringt sie für seinen «Wilhelm Tell» auf die Pfauenbühne.

Milo Rau schreibt hier exklusiv für den Blick über sie für Sie. Bis zur Premiere folgen weitere Kolumnen des preisgekrönten Theatermachers (u. a. Schweizer Theaterpreis 2014), in denen er aktuelle Aspekte des Sagen-Stoffs erörtert – so lebt Tell!

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