Regisseur Milo Rau (45) über seine Theater-Inszenierung des National-Epos
Als Tell auf Hitler schoss

Der umstrittenste Theatermacher inszeniert die legendärste Geschichte auf der wichtigsten Bühne der Schweiz. Im Blick schreibt Milo Rau (45) exklusiv im Vorfeld zu seiner «Wilhelm Tell»-Inszenierung im Schauspielhaus Zürich Ende April.
Publiziert: 08.04.2022 um 10:18 Uhr
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Die Proben für «Wilhelm Tell» im Schauspielhaus Zürich laufen bereits.
Foto: Siggi Bucher
Milo Rau

Die Bühne des Schauspielhauses, auf der wir aktuell den «Wilhelm Tell» proben, ist berühmt für zwei Aufführungen. Zum einen natürlich für den «Wilhelm Tell» von 1939 mit Heinrich Gretler in der Titelrolle, vermutlich die berühmteste Theaterinszenierung der Schweiz überhaupt. Bei Kriegsausbruch den «Tell» zu geben, musste auf Nazideutschland wie eine Provokation wirken – und so war es auch gedacht.

Dabei war der «Tell» eigentlich Hitlers Lieblingsdrama gewesen. Die Idee eines «einigen Volkes», das sich über alle Stände hinweg gegen böswillige ausländische Mächte vereint, passte perfekt in die faschistische Ideologie. Aber schon bald nach der Machtübernahme wurde dem Führer klar, dass viele Deutsche ihn nicht als Tell, sondern als Gessler sahen. Als bei einer Berliner Aufführung die Zuschauer in die «Freiheit»-Rufe einstimmten, wurde das Stück von den Bühnen des Dritten Reichs verbannt.

Mut zur Gegenwehr

Womit die Stunde des Zürcher «Tells» schlug, eines Monuments der «Geistigen Landesverteidigung». Diese gilt heute als opportunistische Rhetorik einer Schweiz, die wirtschaftlich mit dem Dritten Reich kollaborierte. Es ist wahr: Die Schweizer Waffenfabrik Bührle lieferte den Nazis die Munition für ihren Krieg, unsere Banken rissen die Vermögen der Opfer an sich, der Bundesrat bekannte sich speichelleckerisch zu Hitlers «Neuem Europa».

Das Schauspielhaus Zürich aber veröffentlichte eine radikale Absage an all das. Liest man im damaligen Programmheft, dann staunt man: «Es gilt, das Bild des Menschen in seiner Mannigfaltigkeit zu wahren und damit eine Position gegen die zerstörerischen Mächte des Faschismus zu schaffen.» Und das in einem Land, das von allen Seiten von faschistischen Mächten umgeben war – wie gefahrlos sind im Vergleich dazu all die heutigen Programmhefte und «Offenen Briefe»!

Die Tell-Inszenierung 1939 mit Heinrich Gretler bezog mutig Stellung gegen Nazi-Deutschland.
Foto: ullstein bild/Getty Images

Schlingensiefs Neonazis

Die zweite berühmte Inszenierung des Zürcher Schauspielhauses ist Christoph Schlingensiefs Adaption des «Hamlet» aus dem Jahr 2001. Die Aufführung selbst ist vergessen, nicht aber die Besetzung: Auf der Bühne stand eine Gruppe Neonazis. In öffentlichen Aktionen zog der Deutsche Schlingensief unerfreuliche Parallelen zwischen Hitlers Rassepolitik und der radikal gegen Einwanderer hetzenden SVP. Bitter stiess aber nicht die Nazikeule auf, sondern die Tatsache, dass Schlingensief sie schwang. «Geht zurück nach Deutschland», hiess es in den Beschwerdebriefen.

Christoph Schlingensiefs Hamlet sandte 2001 Schockwellen durchs Land.
Foto: Keystone



Wann hat sich eigentlich das Verhältnis zu unserem nördlichen Nachbarn so abgekühlt? Alles hatte so gut angefangen mit Schillers «Wilhelm Tell» – welches andere Nationalepos wurde jemals von einem Ausländer verfasst? Doch spätestens mit dem deutschen Wirtschaftswunder wendete sich das Blatt. In «Homo faber» (1957) von Max Frisch tritt gleich zu Beginn des Buches ein deutscher Industrieller auf, der die Nerven des Erzählers mit seinen besserwisserischen Monologen strapaziert. Es sollten Tausende von Akademikern, Ärzten und Unternehmern folgen.

Tell auf der Bühne, Nazis hinter den Kulissen

Für den durchschnittlichen Schweizer waren sie schlicht zu ehrgeizig, zu laut, kurz: zu sichtbar. Die Tamilen, die Kurden, die Ex-Jugoslawen und schliesslich die Afrikaner verschwanden irgendwie im Billiglohnsektor. Die Deutschen jedoch bestanden selbstbewusst auf dem Versprechen der Schweiz: Gleichberechtigung und Wohlstand. In der Aversion gegen die Deutschen, wie sie zuletzt in der «Begrenzungsinitiative» zum Ausdruck kam, offenbart sich ironischerweise eine Abart des Faschismus: die Angst vor einem überlegenen anderen, der einem die Heimat wegnehmen will.

Es ist vermutlich ein historischer Glücksfall, dass die Nazis Deutsche waren. Oder in den Worten unseres Gesslers, der vom Hamburger Sebastian Rudolph, Schlingensiefs Hamlet, gespielt wird: «Ich glaube, wären die Nazis keine Deutschen gewesen, dann hätten die Schweizer da sofort mitgemacht.» Was sie natürlich gemacht haben. Aber eben nur hinter den Kulissen, nicht auf der Bühne des Schauspielhauses. Dort herrschte Diversität, Offenheit, Humanität.

Welche Neutralität?

Der schönste Moment der Gretler-Inszenierung ist deshalb die Heiratsszene ganz am Ende. Die deutsche Adlige Bertha von Bruneck heiratet Rudenz, einen Schweizer. Schillers Land der Freiheit ist offen für jede und jeden, jenseits aller ideologischen oder sonstigen Grenzen. Zumindest in der imaginären Schweiz des «Wilhelm Tell». Denn in der realen Schweiz gilt das Bürgerrecht als Privileg. Fast ein Viertel der Wohnbevölkerung hat kein Stimm- oder Wahlrecht, über 250'000 Menschen in unserem Land gibt es offiziell gar nicht – die sogenannten Sans-Papiers.

In der Zürcher Wasserkirche verheiraten wir deshalb heute Abend eine Offizierin der Schweizer Armee mit einem eritreischen Deserteur. Seit sieben Jahren lebt er in der Schweiz, eine Rückkehr in seine Heimat würde ihm den Tod bringen – und doch hat er nie eine Aufenhaltsberechtigung erhalten. Was wäre ein schöneres Symbol für unsere bewaffnete Neutralität, als ihn mit «Gut und Blut» zu schützen, wie es bei Schiller heisst? Oder mit den Worten des Gretler-Programmhefts: «Unsere Neutralität ist keine, hinter der man sich ängstlich verschanzt, sondern ein Boden der Wahrheit, die wir in unserem Bezirk, dem Theater, erkämpfen wollen, soweit sie uns erreichbar ist.»

Regisseur Milo Rau inszeniert im Zürcher Schauspielhaus «Wilhelm Tell. Nach Friedrich Schiller». Auf der Bühne stehen auch Laiendarsteller. Am 23. April wird das Stück uraufgeführt.


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