Kindheitserinnerung von Alex Oberholzer
«Menschen mit Behinderungen gehören nicht in Heime, Sonderschulen und geschützte Werkstätten»

Der berühmte, behinderte Schweizer Filmkritiker Alex Oberholzer hat ein berührendes Buch über seine Kindheit geschrieben – zwölf Jahre ohne Eltern im Spital. Doch die Hölle begann erst danach.
Publiziert: 11.08.2023 um 09:29 Uhr
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Alex Oberholzer ist ein langjähriger und legendärer Filmkritiker für Schweizer Medien.
Foto: Zeljko Gataric
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

«Ich war etwa neun Jahre alt, als ich meinen ersten Film sah», schreibt Alex Oberholzer (70), langjähriger und legendärer Filmkritiker für Radio 24, in seiner eben erschienenen Kindheitserinnerung. «Es war ein unheimlich starkes, einmaliges und tiefes Erlebnis.»

«Heidi» (1952) lief damals, die Geschichte vom agilen Bergmädchen, das zur gelähmten Klara in die Stadt kommt. Bilder, die Oberholzer nur zu gut kannte: «Ich zitterte, ich schwitzte, ich krallte mich an meinem Rollstuhl fest.»

Im Sommer 1953 kommt Alex Oberholzer in der Nähe von Zürich zur Welt – ohne Hand und Fuss auf der rechten Seite, am linken Fuss nur drei Zehen, davon zwei verwachsen. Als ob das nicht genug wäre, erkrankt er 1954 noch an Kinderlähmung – nur ein Jahr, bevor ein Impfstoff die Virusepidemie beendete.

Die Beine sind fortan gelähmt, und er kommt als Langzeitpatient für zwölf Jahre in die Aussenstation des Kinderspitals Zürich nach Affoltern am Albis ZH. «Das Kinderspital Affoltern glich mit seinen zwei Türmchen einem Märchenschloss», sagt Oberholzer gegenüber Blick.

Himmeltraurige und heiterkomische Episoden

Ein Märchenschloss mit Feen und Hexen, denn er wächst dort unter der Aufsicht netter und weniger netten Schwestern mit weissen Häubchen auf. «Ich bin froh um die zwölf Jahre im Kinderspital», sagt Oberholzer heute. «Ich kann mir gar keine schönere Jugend vorstellen.»

Als Kleinkind sah er das freilich anders, wie das Kapitel «Erste Erinnerung: Heimweh» beschreibt: Herzzerreissend schreit der kleine Alex nach seinem Mami, doch das kommt nicht – Eltern sagte man damals, es sei besser, wenn sie ihre Kinder nicht besuchen.

Das ist eine von 31 himmeltraurigen oder heiterkomischen Episoden. Was ihm körperlich leider nicht vergönnt ist, das schafft der studierte Mathematiker, Literaturwissenschaftler und Kunstgeschichtler Oberholzer mit dem Intellekt: eine elegante Gratwanderung – und zwar zwischen Ernst und Humor, ohne abzustürzen.

Aber nicht ohne Selbstironie: So erzählt er von seiner ersten Dummheit, als er Ovomaltine aus dem Fenster schüttete – die hatte oben eine Fetthaut, was bei ihm Brechreiz auslöste. Er liess das Getränk über das Sims die Hauswand runterrinnen – eine dunkelbraune Linie, die auf sein Zimmer zurückwies. Eine Moralpredigt folgte.

Keine Abrechnung mit der damaligen Zeit

Die Erziehungsmethoden waren drakonisch: Der Samichlaus, der Klein-Alex im Sack mitnehmen wollte («ich hatte unendlich Angst»); das Fleisch, das er aufessen musste, bis er sich erbrach («direkt auf die Hand der Schwester»); die Schwester, die ihn nicht aus dem Korsett löste, so dass er in die Hose schiss («es war entwürdigend»).

Doch das Buch ist keine Abrechnung mit der damaligen Zeit. «Es ist Hommage und Dank an das Personal, welches sich in meiner Kindheit so liebevoll um mich gekümmert und zu dem gemacht hat, was ich heute bin», sagt der mehrfache Vater und Grossvater Oberholzer.

Er beschreibt, wie ihm eine Schwester ein Zuckerbrot gab: «Es knirschte zwischen den Zähnen, und kurz darauf ergoss sich das pure Glück in meinen Mund.» Eine andere kochte ihm ein weichgesottenes Ei: «Tatsache ist, dass ich das Dreiminutenei noch heute als eine Delikatesse empfinde.»

Nach zwölf Jahren musste er zurück ins Elternhaus, wo mittlerweile auch zwei jüngere Geschwister lebten. «Der Übertritt vom Kinderspital nach Hause war ein grosser Schock», steht im Buch. «Die Eltern fremd, die Geschwister fremd. Freunde hatte ich keine.»

Erste Begegnung mit «Schwester Mami»

Eindrücklich beschreibt Oberholzer die erste Begegnung mit der Mutter: «Vor mir standen die Ärztin und eine fremde Frau. Die Ärztin sagte stolz, das sei meine Mutter. Ich sagte: Grüezi Schwester Mami. Warum tragen Sie kein Häubchen? Meine Mutter zeigte keine Reaktion.»

«Es brauchte Jahre, um die Distanz zu verringern», sagt Oberholzer heute. «Ganz gelang es nie.» Der Übertritt in die Gesellschaft sei grauenvoll gewesen, der hätte begleitet werden müssen. Heute werde das zum Glück gemacht. Doch was die Zugänglichkeit anbelange, sei die Schweiz noch immer ein absolutes Entwicklungsland.

«Menschen mit Behinderungen gehören nicht in Heime, Sonderschulen und geschützte Werkstätten», sagt er. «Sie müssen sichtbar sein, sie müssen sich einmischen – ich sehe da eine neue, auch politische Bewegung entstehen, die mich zuversichtlich stimmt.»

Dieses Buch trägt zur Sichtbarkeit bei. «Und falls mich nach der Lektüre die eine oder andere Schwester oder Physiotherapeutin wieder erkennt und sich bei mir meldet, wäre das wunderschön», sagt Oberholzer. Dann würde er sich für alles persönlich bedanken. «Das konnte ich bisher ja nicht.»

Alex Oberholzer, «Im Paradies der weissen Häubchen – meine Kindheit im Spital», Hier und Jetzt

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