Wenn man sich die Krankenakte von Anna Troelsen anschaut, könnte man meinen, es handle sich um die einer 75-Jährigen. Tatsächlich aber ist es die Akte einer 28-Jährigen. Die Tragik: Die Luzernerin leidet an Rheuma, einem vermeintlichen Altersgebrechen, seit sie 5 Jahre alt ist.
«Alle dachten, ich würde mir meine Schmerzen ausdenken»
Troelsens Leidensweg beginnt früh. Als junges Mädchen hat sie regelmässig 38 Grad Fieber und rote geschwollene Handgelenke, fehlt dadurch in der Schule. «Alle dachten, ich würde mir meine Schmerzen ausdenken», erinnert sie sich. Eine Unterstellung. Troelsen verpasst nicht nur die Schule, sondern auch ihre Kindheit. Auch während ihre Kollegen in der Badi Spass haben, muss sie im Bett bleiben.
In der fünften Klasse wird sie im Kinderspital in Zürich das erste Mal intensiver untersucht, allerdings ohne Befund. «Für die Ärzte war es wohl vollkommen abwegig, eine 10-Jährige auf Rheuma zu untersuchen», erzählt die junge Frau. Weil sie grösser als ihre Mitschüler ist, hält man ihre Schmerzen für Wachstumsstörungen. Die Schülerin ist verunsichert: «Wenn dir alle sagen, dass du nichts hast, glaubst du das irgendwann auch.»
Doch vier Jahre später muss Troelsen wegen einer Sportverletzung ins Kinderspital in Luzern – und dort stellen die Ärzte endlich die richtige Diagnose. «Als ich die Röntgenaufnahmen sah, verstand ich sofort, dass etwas gar nicht in Ordnung war – meine Wirbelsäule sah aus wie eine Schlange.»
Eins von tausend Kindern
Der Befund: juvenile, idiopathische Skoliose, eine genetisch bedingte Verkrümmung der Wirbelsäule. Doch es kommt noch schlimmer: Neben der starken Rückenverkrümmung entdecken die Ärzte auch eine chronische Krankheit: juvenile, idiopathische Arthritis – Rheuma. Die Krankheit führt zu schmerzhaften, chronischen Entzündungen der Gelenke.
«Zwar wird Rheuma häufig als Alterskrankheit abgestempelt, allerdings erkranken auch Kinder und Jugendliche daran. So tritt jener Typ rheumatischer Erkrankung, den Anna Troelsen hat, schon vor dem 16. Lebensjahr auf», so Isabelle Steeb (46), wissenschaftliche Mitarbeiterin der «Rheumaliga Schweiz». Schätzungen zufolge sollen daran pro Jahr eins bis zwei von 1000 Kindern erkranken – überwiegend sind Mädchen betroffen.
Für Anna Troelsen hat die Diagnose weitreichende Folgen. Man sagt ihr, dass sie noch vor ihrem 18. Geburtstag im Rollstuhl sitzen würde. «Wenn ich das nicht wolle, müsse ich mich früher oder später einer umfangreichen Rücken-Operation unterziehen», fasst sie den Rat der Ärzte zusammen. Bis zur Operation soll eine Korsett-Therapie der jungen Frau Linderung verschaffen.
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«Ich konnte gar nichts dafür»
Doch die junge Frau bekommt Probleme mit ihrem Sozialleben und in der Schule. «Während andere im Ausgang waren, sass ich krank zu Hause.» Im Gymnasium verliert Troelsen den Anschluss an ihre Klassenkameraden. Der Grund: Immer wieder muss Troelsen wegen der schmerzhaften Krankheit zu Hause bleiben.
Dann der Tiefschlag: Troelsen wird nach der dritten Klasse vom Gymnasium geschmissen – das trotz ihren guten Noten. «Ich kann verstehen, dass meine Absenzen ein extremes Ausmass angenommen hatten, aber ich konnte gar nichts dafür.»
Dann folgt endlich die von den Ärzten empfohlene Rücken-Operation. Danach versucht sich die junge Frau erneut an der gymnasialen Maturität. Schliesslich ist es ihr Traum, Rechtswissenschaften zu studieren. Doch Troelsen scheitert erneut, wieder wegen der grossen Zahl an Fehltagen.
Troelsen darf nicht mehr ans Gymnasium
Die Invalidenversicherung (IV) schaltet sich ein. Für sie ist der Fall klar: Wenn Troelsen Jura studieren will, muss sie dies über den zweiten Bildungsweg versuchen – über eine Lehre. Das Gymi muss sie sich abschminken.
Aber auch während der KV-Lehre fehlt die junge Frau oft. «Insbesondere in der Berufsschule habe ich einzelne Fächer nie besucht», sagt sie. Dennoch schliesst sie mit einem Notendurchschnitt von 5,5 ab.
Jetzt will Troelsen die Berufsmatura in Angriff nehmen. Doch das Rheuma ist mit schweren Schüben zurück. «Ich musste mehrere Wochen in eine medizinische Rehabilitationsklinik.» Wieder platzt der Traum von der Matura, denn wegen der Reha will man sie nicht zur Berufsmatura zulassen.
Die Krankheit begleitet sie immer
Trotzdem ist sie heute auf dem Weg zu ihrem Berufsziel Juristin. «Eine Zürcher Fachhochschule hat mich auch ohne Berufsmatura zur Aufnahmeprüfung für ein Jura-Studium zugelassen», erzählt Anna Troelsen. Die junge Frau setzt alles daran, die Prüfung zu bestehen. «Während der Reha habe ich immer meine Lernhefter zu den Therapiesitzungen mitgenommen.»
Der Einsatz zahlt sich aus. Sie besteht die Aufnahmeprüfung und studiert jetzt Rechtswissenschaften. Ihre Krankheit ist dabei aber auch heute noch ihr ständiger Begleiter. Das Rheuma kehrt immer wieder in Schüben zurück: «Manchmal bin ich nur zwei Tage krank, dann liege ich wieder wochenlang flach. Das ist mein Schicksal», sagt Troelsen. Doch ans Aufgeben will die 28-Jährige keine Sekunde denken.