Eigentlich müsste dieser Artikel gleich mehrere Anfänge haben, um der Onkologin Noémie Lang (40) gerecht zu werden. Da wäre zum einen: Lang hat letzten Monat eine Million Franken an Forschungsgeldern gewonnen, damit sie in den nächsten Jahren eine von ihr entwickelte Studie durchführen kann.
«Darin», sagt Lang, «geht es um die Früherkennung einiger Hirnlymphomen mittels eines neuen Verfahrens.» Lymphome sind Krebsarten, die im lymphatischen System entstehen. Dieses wiederum ist das körpereigene System, das dazu dient, Krankheiten abzuwehren. Dazu gehört zum einen das Knochenmark, das diverse Blutzellen, die Krankheiten bekämpfen, herstellt. Zum anderen die Lymphgefässe, die den Adern und Venen folgen und die eng an den Blutkreislauf gekoppelt sind, sie transportieren diese Zellen in der Lymphflüssigkeit ins Gewebe und in die Organe. Unterschiedliche Krebsarten, die alle unter dem Überbegriff Lymphome vereint sind, können sich im lymphatischen System entwickeln.
Oft zu spät erkannt
Das Problem: Einige von ihnen, insbesondere Lymphome, die das Gehirn erreichen, sind im Blut oder in der Flüssigkeit, die unser Gehirn umgibt, bislang nur schwer nachweisbar. Menschen, bei denen ein aggressives Lymphom diagnostiziert wurde, sind aber gefährdet, dass sich die Krebszellen auch im Gehirn ausbreiten. Da die derzeitigen Tests nicht aussagekräftig genug sind, laufen viele Patientinnen und Patienten Gefahr, unzureichend behandelt zu werden. Auch ist das Risiko für Genesene hoch, dass ein Rückfall zu lange unerkannt bleibt.
Lang wird nun ein Früherkennungssystem entwickeln, das einige dieser Krebszellen viel zuverlässiger anzeigt, mittels eines Verfahrens, das die Flüssigkeit, die unser Hirn umgibt und auch in unserem Rückenmark vorhanden ist, auf Krebszellen-DNA testet. So sei die DNA krankhafter Zellen viel eher zu erkennen als bislang. Eine Behandlung kann somit viel früher erfolgen und hat darum eine viel grössere Erfolgschance.
Zeitdruck, Zeitdruck, Zeitdruck …
So viel recht oberflächlich zu Langs Forschung. Sie erklärt all das während knapp zehn Minuten in der Kantine an einem ihrer Arbeitsplätze, dem Universitätsspital Genf. Dort arbeitet sie drei Tage die Woche als Stationschefin auf der Onkologie und behandelt ausschliesslich Lymphom-Patienten. Die anderen zwei Tage der Arbeitswoche gehören ihrer Forschung. Diese erläutert sie während ihrer Mittagspause – wobei «Pause» in diesem Fall ein falsches Wort ist. Für Lang bedeutet es: im Stechschritt in die Kantine, die Fragen beantworten, hastig ins Sandwich beissen, kaum zerkaut herunterschlucken, ständiges Handybeantworten, aufstehen, im Stechschritt weiter. Die Hälfte ihres Mittagessens schafft sie nicht. Die Zeit reicht nicht.
Noémie Langs Forschungspreis heisst Swiss Network Trial Award. Das Geld wird von der schweiz- und europaweit vernetzten Non-Profit-Organisation Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) für vielversprechende Forschungsansätze gesprochen. Die SAKK wird aus Stiftungsgeldern, vom Bund und von der Pharmaindustrie finanziert.
Noémie Langs Forschungspreis heisst Swiss Network Trial Award. Das Geld wird von der schweiz- und europaweit vernetzten Non-Profit-Organisation Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) für vielversprechende Forschungsansätze gesprochen. Die SAKK wird aus Stiftungsgeldern, vom Bund und von der Pharmaindustrie finanziert.
Ein weiterer Anfang für diesen Artikel könnte nämlich auch das schiere Erstaunen darüber sein, was Ärztinnen und Ärzte im Spital alles leisten. Zugegeben: Von der Arbeitsbelastung der Ärzteteams, insbesondere im Spital, hat man hinlänglich gehört. Und Stress haben gefühlt alle. Trotzdem: Man macht sich keinen Begriff davon, was Ärzte alles unglaublich effizient leisten, wenn man nicht dabei gewesen ist.
Wer die Ausnahmeforscherin Lang einen Tag lang begleitet, muss schnell sein. Denn Lang geht ausschliesslich im Stechschritt. In einem normalen Schritttempo kommt man nicht nach. Und so ein Spital ist weitläufig. Vom Behandlungszimmer zu verschiedenen Sekretariaten und zurück braucht man nach einem Arbeitstag im Spital nicht mehr ins Fitnessstudio zu gehen. Zeit hat man wohl sowieso keine.
… rührende professionelle Empathie …
Lang sieht an diesem Tag sieben Patienten, viel weniger als normal, weil sie am Nachmittag selbst einen Arzttermin hat. Pro Patient stehen ihr 45 Minuten zur Verfügung, inklusive Administration. Dass sie unter Zeitdruck steht, dass sie ein Teil einer auf äusserster Effizienz getrimmten Maschinerie ist, davon merken die Patienten nichts. Lang fragt sie nach ihrem Befinden, liest die komplexesten Krankengeschichten in Sekundenschnelle, redet ihnen ins Gewissen, etwa, wenn sie seltsame Ernährungszusätze nehmen und auf irgendwelche Kurpfuscher hereinfallen, untersucht ihre Lymphknoten auf dem Behandlungstisch, tastet neuralgische Stellen an Hals und in der Leiste ab, erkundigt sich nach der Arbeitssituation.
Es entsteht dabei eine Art professionelle Nähe, die von der Beobachterwarte aus etwas Intimes, Rührendes, Tröstliches und gleichzeitig Trauriges hat: Egal wie krank, egal wie psychisch schlecht es einem Patienten geht, egal wie vereinsamt jemand sein mag – wir haben es als Gesellschaft so eingerichtet, dass jemand da ist, der sich kümmert, der Menschen an Tiefpunkten auf körperlicher und seelischer Ebene berührt. Was auch für Ärzte nicht immer einfach ist.
Lang sagt später beim Lunch, sie müsse sich bewusst sagen, dass sie jedem Menschen, der bei ihr ist, auf einem Teil seines Wegs hilft – «auch wenn die Reise schliesslich im Tod mündet. So kann ich mit mir selbst zufrieden sein und Distanz wahren. Obwohl es mich natürlich schon auch manchmal mitnimmt, wenn ein Patient keine gute Prognose hat».
Eine Art Trauer schleicht sich beim Beobachten dieser Intimität bei der Patientenvisite ein, weil die Gesellschaft Ärzte, intelligente, engagierte Menschen mit grossem Fachwissen und noch grösserem Bedürfnis zu helfen, derart überlastet, dass sie reihenweise ausbrennen. Und auch, wenn man Lang zuhört, die sagt, dass Menschen nach einer Krebserkrankung circa ein Jahr brauchen, um diese lebensbedrohliche Situation auch psychisch zu verarbeiten. Arbeitgeber hätten diese Geduld oft nicht, «knapp genesenen Menschen wird oft gekündigt, und sie fallen so in ein noch tieferes psychisches Loch». Ein Besuch als Beobachter im Spital auf der Onkologie zeigt einem gleichzeitig das Beste und sehr viel Schlechtes unserer Gesellschaft.
… rasend schnelle Entscheidungen …
Nicht, dass Lang ausgebrannt wirken würde, im Gegenteil. Sobald ein Patient verabschiedet wird, läuft sie zu einer anderen Art von Hochform auf. Rasend schnell und dabei höchst konzentriert trifft sie Entscheidungen, koordiniert per Mail weitere Behandlungen, verweist an andere Abteilungen weiter, bringt – natürlich im Stechschritt – Informationen auf diverse Sekretariate, während sie gleichzeitig am Handy mit Kollegen das weitere Vorgehen bespricht. Dies alles, bevor bereits der nächste Patient wartet. Und trotz aller Effizienz: Die Administration ist damit bei weitem nicht fertig erledigt.
… und teilweise obermühsame Kollegen: Lang leistet schier Übermenschliches
Nicht immer ist die Koordination mit Kollegen anderer Abteilungen einfach. Auf der Intensivstation zweifelt ein fachfremder Kollege die Krebsbehandlung eines Patienten an, die Lang angeordnet hat. Und gibt sich nicht zufrieden mit Langs Antworten, ein, zwei, drei Mal muss sie, ohne sich verunsichern zu lassen, dasselbe erklären, während allen, zunehmend genervten Umstehenden längst klar ist, dass sich Lang in ihrer Anordnung absolut sicher ist. Und ihr ganz einfach die Zeit fehlt, ein viertes Mal dasselbe zu wiederholen.
Nur schon aus der Körpersprache des Kollegen und wegen dem in unangenehmer Weise zu kleinen körperlichen Abstand wird klar: Mit einem männlichen Kollegen hätte der fachfremde Arzt niemals so gesprochen. Noch als sie weitergeht, redet er auf sie ein. Lang sagt später – im Eilschritt auf dem Gang – nur diplomatisch dazu: «Es ist vielleicht ganz gut, dass eine Frau diese Forschungsmillion gewonnen hat. Frauen können es in Spitälern noch heutzutage manchmal schwer haben.» Und dies könnte das dritte Thema dieses Artikels sein: wie sehr Frauen in hierarchisch-patriarchalen Strukturen, wie sie in Spitälern vermutlich oft noch herrschen, kämpfen müssen, um ernst genommen zu werden.
Die Forschungsmillion sei, wenn auch schweizweit das grösste Preisgeld in der Krebsforschung, im Übrigen gar nicht so derart viel für eine gross angelegte Studie, meint Lang, die es ziemlich zufällig in die Onkologie verschlagen hat: «Eigentlich wollte ich Fotografin werden. Aber die Naturwissenschaften haben mich auch interessiert. Und im Medizinstudium kam Mathematik, Physik, Chemie und Biologie zusammen, darum habe ich Medizin studiert.» In die Onkologie sei sie während eines Praktikums gekommen – und geblieben.
Lymphoma-Patientinnen und -Patienten können jedenfalls froh sein, ist Lang nicht Fotografin geworden. Für diese Krebsbetroffenen können die Zufälle in Langs Leben in Zukunft über Leben und Tod entscheiden. Wenn die Studie, wie Lang vermutet, in rund drei Jahren abgeschlossen sein wird.