Das Dilemma liegt offen zutage: Auf der einen Seite denkt eine kleine Gemeinde wie Lauterbrunnen BE über Tagesgebühren für Gäste nach, um nicht von Touristenströmen überrannt zu werden. Auf der anderen müssen Destinationen wie Luzern, das Jungfraujoch oder der Titlis täglich Tausende von Besuchern anlocken, um ihre Tourismus-Industrie in Gang zu halten.
Auf Ziele wie Luzern wirkte sich die Pandemie und das in China lange geltende Reiseverbot fatal aus: Die ausbleibenden Gruppen machten einen ansehnlichen Teil der Kundschaft aus. Am Vierwaldstättersee atmet man jetzt auf: «Das Interesse der potenziellen Gäste für Reisen nach Europa und in die Schweiz ist wieder da», stellt Sibylle Gerardi von Luzern Tourismus fest. Dass es bis zur Rückkehr der Chinesen so lange dauerte, habe damit zu tun, dass die Reisebeschränkungen erst spät aufgehoben wurden, Visa-Abgabestellen erst mit Verzögerung öffneten und Flugkapazitäten dauerhaft fehlten. Nachdem China die Engpässe behoben hatte, «waren die Hotels für den Sommer schon sehr gut gebucht», sagt Gerardi.
Mehr Kleingruppen und Alleinreisende
Luzern führe «die üblichen Aktivitäten» dafür fort und sei zuversichtlich, dass künftig mehr Kleingruppen oder Individualreisende aus China kommen. Um den erwünschten Ansturm in Bahnen zu lenken, streben die Touristiker eine gleichmässigere Verteilung der Gäste über das Jahr an. So werde etwa in China die Wintersaison stärker beworben, sagt Liên Burkard, Sprecherin von Schweiz Tourismus.
80 Prozent als Ziel für 2024
Verglichen mit 2019 besuchten letztes Jahr 44 Prozent weniger chinesische Gäste die Schweiz. Die Corona-Pandemie liess den Markt komplett einbrechen, nun expandiert er wieder stark. «Wir erwarten, schon 2024 wieder über 80 Prozent des Vor-Pandemie-Niveaus zu erreichen und dass die Zahlen danach weiter wachsen», so Burkard. China sei momentan einer der weltweit am stärksten wachsenden Märkte. Deshalb zielen die Marketingaktivitäten laut Burkard darauf ab, «das starke Wachstum bis hin zur vollständigen Erholung von der Pandemie weiterzuführen».
Die «neuen» chinesischen Gäste – Kleingruppen und Alleinreisende – seien weniger auf günstige Preise bedacht und bereit, Geld auszugeben, sagt Burkard. Dadurch gewinne die Zusammenarbeit mit spezialisierten Reiseveranstaltern an Bedeutung. Grundsätzlich ändere sich die Marketingstrategie für China nicht.
Suche nach der Balance
Weil Touristenmassen Sehenswürdigkeiten und Ausflugsziele zu Spitzenzeiten ungeniessbar machen, sehen sich Touristiker im Zwiespalt: Sie wollen Gäste anlocken, aber Zustände wie etwa in Luzern vor Corona vermeiden. Deshalb zielen sie nun in China auf Individualreisende und Kleingruppen und werben vor allem für die Wintersaison.
Auch für die Jungfraubahnen im Berner Oberland sind die chinesischen Gäste wichtig. Sprecherin Kathrin Naegeli betont jedoch, das Unternehmen sei breit aufgestellt: Die mehr als eine Million Gäste im vergangenen Jahr sei aus aller Welt gekommen.
Die Jungfraubahnen sind allerdings in China sehr aktiv und waren beispielsweise an den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking präsent. Im Jahr darauf erreichte die Zahl der Gäste aus China dennoch erst ein Viertel des Niveaus von 2019. Dieses Jahr sollen es laut Naegeli 50 bis 60 Prozent sein. Damit die frühere Nachfrage wieder erreicht wird, setzt das Unternehmen seine seit 1996 laufenden Aktivitäten fort: «Wir bearbeiten den Markt in China weiter aktiv, online, mit Geschäftsreisen und Vertretern im Land», sagt Naegeli. Rund um das chinesische Neujahrsfest habe man wie in früheren Jahren viele Kontakte gepflegt.
Lieber im eigenen Land
Die Titlis Bergbahnen in Engelberg OW unternehmen derzeit keine speziellen Anstrengungen in China, wie Sprecher Urs Egli mitteilt. Der Grund: Das Unternehmen strebe einen ausgewogenen Gästemix an. Dazu kommt laut Egli, «dass der Chinese momentan eher im eigenen Land oder in benachbarte Nationen reist». Die seit Jahren bestehenden Aktivitäten im Reich der Mitte hielten die Titlis Bergbahnen aber weiter aufrecht, betont Egli.
St. Moritz GR wiederum konzentriert sich neben Gästen aus der Schweiz auf ihre stärksten Märkte USA, Grossbritannien sowie die «vielversprechenden» Wachstumsregionen Brasilien und Südostasien, wie Sprecherin Katja Grauwiler erklärt.
Bei der Matterhorn Gotthard Bahn im Wallis tönt es ähnlich gelassen. Sprecher Christoph Andereggen sagt, die chinesischen Gäste hätten für das Unternehmen keine zentrale Bedeutung. «Den Fokus richten wir auf die Schweiz und Mitteleuropa, den angelsächsischen Raum, Südkorea und Südostasien.»