BLICK: Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie gut ist die Schweiz im Kampf gegen Covid, was den Einsatz digitaler Mittel angeht?
Andrea Belliger: Ich würde der Schweiz eine Drei geben. Im Gesundheitswesen ist die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern ein digitales Entwicklungsland.
Wieso?
Es fehlt digital ganz vieles. Die Vernetzung der Ärzte, die Integration von Technologie in die Behandlung von Patienten, eine konsistente Datenerhebung. Zudem macht Technologie im Gesundheitswesen die Arbeit des Personals nicht einfacher, sondern komplizierter.
Können Sie das erklären?
Ich war letzte Woche impfen. Ich nutze seit längerem den digitalen Impfausweis. Das ist grossartig: Meine Daten sind aktuell, ich muss nicht immer mein Impfbüchlein suchen, ich bekomme Meldungen, wenn eine Impfung aufgefrischt werden muss. Aber: Meine Hausärztin meinte ganz lapidar, dass das digitale Erfassen der Impfungen länger dauere als die Impfung selbst. Solange das der Fall ist, werden wir keine breite Anwendung sehen. Technologie muss helfen, Diagnosen zu erleichtern, Arbeitsabläufe im Praxisalltag zu verschlanken, Zeit zu sparen. Das tut sie in der Realität oft nicht.
Auch bei der Umsetzung der Covid-Impfstrategie gibt es derzeit IT-Probleme.
Die Entwicklung des Anmeldetools wurde erst Mitte Dezember in Auftrag gegeben. Die Vergabe musste auf die Impfstrategie und Empfehlungen der Kommission für Impffragen warten. Und dann haben wir zu allem Elend auch noch eine uneinheitliche Lösung beim Bund und in einigen Kantonen. Die kantonalen Anmeldetools waren denn auch bereits mit wenigen Anmeldungen überfordert. Hightech sieht anders aus.
Kann Privat digitale Transformation besser als Staat?
Ja, zumindest bei uns im Westen. Weil Privat stärker unter Marktdruck steht. Monopolinstitutionen sind veränderungsresistenter. Aber auch staatliche Organisationen können sich ändern.
Wie?
Die Verwaltung muss flexibler und agiler und der Staat zu einer lernenden Organisation werden. Lernen heisst ausprobieren, schauen, was funktioniert, auch mal auf die Nase fallen dürfen.
Gibt es in Europa Länder, die es besser machen?
Deutschland unter Gesundheitsminister Jens Spahn macht das in Sachen Digitalisierung im Moment ziemlich gut. Deutschland hat den Zulassungsprozess für digitale Anwendungen und damit die Möglichkeit, diese durch Krankenkassen zu vergüten, neu aufgesetzt, vereinfacht und schneller gemacht – ohne die Qualität der Versorgung zu gefährden.
Was haben Sie eigentlich gedacht, als Sie das erste Mal davon gehört haben, dass im BAG die Fallzahlen gefaxt werden?
Ich war leider nicht überrascht. Das Faxgerät ist ein Running Gag im Gesundheitswesen und spielt in der Datenübermittlung immer noch eine zentrale Rolle. Das ist einfach sehr fehleranfällig, wie die berühmte 9-jährige Tote zeigte, die sich als 109-Jährige herausstellte. Aber es gab ja eine Reihe weiterer digitaler Fehlleistungen in dieser Pandemie.
Welche?
Die Covid-App. Sie war schon im Frühling vorhanden, konnte aber nicht in Betrieb genommen werden. Heute läuft sie zwar, aber wir sind mit dem Problem konfrontiert, dass die Warnungen teilweise erst neun Tage nach der Begegnung mit positiv Getesteten an Kontakte gesendet werden.
Ein Problem sind auch fehlende Daten für die politischen Entscheidungsträger.
Wissenschaft bedeutet, basierend auf einer sauberen Datengrundlage, Dinge abzuleiten. Der Bundesrat kann das nicht, weil uns im Gesundheitswesen die Infrastruktur fehlt, um zum Beispiel Daten einheitlich und schnell weiterzuleiten. Deshalb wissen wir gar nicht genau, wie die Massnahmen wirken. Das ist schwierig und unwissenschaftlich.
Gibt es aus Ihrer Sicht kurzfristig umsetzbare digitale Massnahmen, die im Kampf gegen Covid schnell Erfolg bringen könnten ?
Jetzt, kurzfristig, digital, schnell und erfolgreich?
Genau!
Nein. Aber seien wir ehrlich: Eine Pandemie ist kein Problem, das man in erster Linie mit digitalen Massnahmen löst. Eine Pandemie ist vielleicht nicht mal so sehr ein medizinisches Problem. Sie ist ein gesellschaftliches Problem. Und das ist mit ein Grund, wieso wir so schlecht dastehen.
Wie meinen Sie das?
Der Grund reicht 300 Jahre zurück: Wir sind ja alles Kinder der Aufklärung. Bei uns steht das Individuum über allem, das autonome Subjekt ist das Mass aller Dinge. Aber allein bekämpft man keine Pandemie. Ein wenig mehr gemeinschaftliches Denken würde uns da guttun. Es muss ja nicht gleich wie in China sein. Aber auch freiheitlichere Gesellschaften wie Finnland, Südkorea oder Neuseeland haben gezeigt, dass es geht.
Lassen Sie uns noch über die Rolle des Patienten in der digitalisierten Welt reden.
Gern.
Ich habe gelernt: Bei Krankheit nicht googeln, sondern dem Arzt vertrauen.
Das ist ein Luxus der Gesunden. Sobald man krank ist, holt man sich Zweitmeinungen ein. Man gibt seine Daten und bekommt dafür Informationen. Interessanterweise sehen es Ärzte ähnlich wie Sie.
Wie meinen Sie das?
Dass sich Patientinnen und Patienten durch den Zugriff auf die eigenen medizinischen Daten intensiver mit ihren Gesundheitsdaten befassen und damit informierter in die Arztpraxis kommen, bewerten nur 29 Prozent der in einer Schweizer Studie befragten Ärzte als positiv, ein Viertel sogar als negativ.
Und was sagen die Patienten?
Sie sind digitalen Neuerungen gegenüber aufgeschlossener. Dem Schweizer eHealth-Barometer zufolge sind 72 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger der Ansicht, dass Ärzte und Therapeuten Gesundheitsinformationen von Patienten im Rahmen der Behandlung digital austauschen sollten. Patienten sind absolute Experten im Kranksein. Sie kennen ihre Krankheitsgeschichte besser als alle anderen. Dieses Wissen liegt heute brach.
Dafür gibt es aber auch gute Gründe. Den Datenschutz, zum Beispiel.
Datenschutz ist etwas für Gesunde. Aus dieser Haltung ist bereits eine interessante Bewegung entstanden, das sogenannte Carehacking.
Was ist das?
Eine Patientenbewegung, die das Recht auf die eigenen Daten einfordert. Es gibt schon erste Helden. Der italienische Gehirntumor-Patient Salvatore Iaconesi zum Beispiel. Ihm wurde vom Spital der Zugriff auf seine Patientendaten verweigert. Er hat kurzerhand die IT der Klinik gehackt, seine Daten rausgeholt und sie ins Netz stellt, um Zweitmeinungen zum bevorstehenden chirurgischen Eingriff zu erhalten.
Sind das Einzelfälle?
Nein, im Diabetes-Bereich hat sich rund um die Amerikanerin Dana Lewis eine globale Bewegung mit dem Namen #WeAreNotWaiting gebildet, mit dem Ziel, ein von den Medtech-Firmen lange vernachlässigtes Tool, ein externes künstliches Pankreas-System, zu entwickeln. Viele Innovationen werden heute nicht in den traditionellen Life-Science-Unternehmen initiiert, sondern stammen aus Do-it-yourself- und Untergrundinitiativen.
Jetzt soll ich also als Patient meine eigenen Gesundheitsdaten analysieren. Was, wenn mich das überfordert?
Ich bin selbst permanent überfordert – wenn ich die komplexen Abstimmungsvorlagen lese oder versuche, mich im Mediendschungel über Fakes & Fakten zu Corona schlau zu machen. Permanente Überforderung ist angesichts der Komplexität der Welt Tatsache und Normalzustand. Wir müssen lernen, mit Überfülle umzugehen.
Mit der digitalen Transformation drängen neue Konzerne in den Gesundheitsmarkt: grosse Techfirmen wie Google, aber auch der Schweizer Detailhandelsriese Migros, den Sie beraten.
Die Migros ist nicht nur der Ort, wo ich meine Schoggi und meine Rüebli kaufe, sondern mit Medbase mittlerweile die grösste Anbieterin von Hausarztmedizin. Zudem hat sie ambulante Operationszentren, eine Apotheken- und eine Zahnarztkette. Sie ist die zweitgrösste Fitnessanbieterin in Europa, die grösste Volkshochschule, Bank, Reiseanbieterin, und sie wird damit immer mehr zur umfassenden Gesundheitsplattform.
Was bedeutet das für den Datenschutz, wenn private Konzerne unsere intimsten Gesundheitsdaten kennen?
Beim Datenschutz sind in der Schweiz und in Europa die Grenzen eng gesteckt. Für meinen Geschmack zu eng. Unsere Vorstellung von Datenschutz und Schutz der Privatsphäre stammt noch aus dem 19. Jahrhundert. Wir müssen das neu denken, um als Gesellschaft innovativ zu bleiben.
Verharmlosen Sie damit nicht das Schadenspotenzial, das eine Ausbeutung unserer Gesundheitsdaten haben könnte?
Nein, ich unterschätze das nicht. Aber wir müssen wegkommen von diesem Schwarz-Weiss-Denken: Nutzung von Daten auf der einen und individueller Datenschutz auf der anderen Seite. Wir merken doch gerade in dieser Pandemie, dass das katastrophale Folgen hat.
In einem anderen Bereich interessiert Datenschutz weniger. Sogenannte Gesundheitsapps boomen.
Ja, wir verhalten uns oft nicht sehr konsistent. Beim Sport geben wir problemlos unsere Daten her. Es gibt übrigens mittlerweile über 360'000 solcher Gesundheitsapps. Während wir in den letzten Jahren eher Dinge wie Schritte, Kalorienverbrauch und zurückgelegte Höhenmeter gemessen haben, boomen gerade auch während der Pandemie Wellnessapps, Meditationsapps, Apps zur Messung des Gemütszustands und Schlaftracker. Schlaflosigkeit ist quasi das neue Übergewicht.
Diese totale Transparenz und Fixierung führen zu einem System, in dem Kranke die Kosten bezahlen, die sie verursachen. Das ist unsolidarisch.
Wir müssen der Solidarität Sorge tragen. Sie ist ein hohes Gut. Aber es ist auch unsere Aufgabe als Gesellschaft, immer wieder aufs Neue auszuhandeln, was wir bezahlen und was nicht. Das sind fundamentale ethische Fragen: Haben wir das Recht, uns willentlich zu schaden? Sollen wir für Raucher, Grümpelturnierspieler und Skifahrer solidarisch haften?
Und, sollen wir?
Natürlich sollen wir, was für eine Frage! Aber die Art, wie wir das tun, ändert sich. Wir werden stärker zu Partnern von Versicherungen, es ist ja unser Geld als Kunden und Bürgerinnen, das da fliesst. Die Vereinbarungen und Policen werden personalisierter, und neue Modelle, zum Beispiel mit Schadensfrei-Bonus, sind gerade am Entstehen.
Andrea Belliger (50) wuchs in Eschenbach LU auf und studierte Theologie, Philosophie und Geschichte. Heute ist sie Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Luzern und Direktorin des Instituts für Kommunikation & Führung. Belliger sitzt in verschiedenen Verwaltungsräten und ist Präsidentin des Advisory Boards des Gesundheitsdienstleisters Medbase, der zur Migros gehört. 2019 wurde sie unter die 25 einflussreichsten Persönlichkeiten im Gesundheitswesen der Schweiz gewählt. Andrea Belliger ist verheiratet und wohnt im Kanton Luzern.
Andrea Belliger (50) wuchs in Eschenbach LU auf und studierte Theologie, Philosophie und Geschichte. Heute ist sie Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Luzern und Direktorin des Instituts für Kommunikation & Führung. Belliger sitzt in verschiedenen Verwaltungsräten und ist Präsidentin des Advisory Boards des Gesundheitsdienstleisters Medbase, der zur Migros gehört. 2019 wurde sie unter die 25 einflussreichsten Persönlichkeiten im Gesundheitswesen der Schweiz gewählt. Andrea Belliger ist verheiratet und wohnt im Kanton Luzern.