Ob Ärztin, Jurist, Biologin oder Bauingenieur: Wer reformiert ist, über 55 Jahre alt, einen Studienabschluss hat und ein neues Betätigungsfeld sucht, kann sich künftig als Pfarrerin oder Pfarrer betätigen.
Um in den nächsten Jahren die offenen Stellen zu besetzen, plant die reformierte Kirche einen neuen Zugang auf die Kanzel, denn Bewerber mit einem Master in Theologie oder mit absolvierter Quereinsteiger-Ausbildung hat es zu wenig.
Deshalb erarbeiteten die Verantwortlichen einen Notfallplan. Dieser sieht vor, dass über 55-jährige Berufsleute mit Hochschulabschluss, aber ohne Theologiestudium, die Voraussetzungen für eine Pfarrstelle erfüllen. Nach einem Aufnahmegespräch und einem Assessment können Interessierte nach einer dreimonatigen Ausbildung angestellt werden. Wie die Zeitung «Reformiert» publik machte, soll das Programm ab 2026 umgesetzt werden.
Temporäre Massnahme
Dafür wurde nun eine Vernehmlassung im Konkordat mit den 19 kantonalen Landeskirchen – alle Deutschschweizer ausser Bern plus die Tessiner Sektion – gestartet. Sie dauert bis im kommenden März. Dazu werden universitäre Fakultäten sowie Fachgremien befragt. Da wird sich herausstellen, ob zum Beispiel der Vorschlag Anklang findet, dass die Rekrutierung von über 55-Jährigen so lange praktiziert wird, bis der Mangel behoben ist. «Es soll eine temporäre Notfalllösung sein», betont Thomas Schaufelberger (56), der im Konkordat die Aus- und Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer leitet. Zudem wäre dieser Weg laut dem Ausbildungschef nicht mit einer offiziellen Ordination verbunden, also auch nicht mit dem Titel Pfarrerin und Pfarrer.
Wie bei den Lehrpersonen existiert auch bei den Theologen eine Quereinsteiger-Ausbildung. Diese gibt es seit 2015. Ein Drittel der Pfarrstellen würden durch Absolventen dieser Lehrgänge besetzt, sagt Schaufelberger. Doch das reiche nicht, um alle Vakanzen zu besetzen. Und die Quereinsteiger-Ausbildung sei anspruchsvoll und unterscheide sich nicht vom klassischen Weg. «Es ist kaum möglich, genügend Leute zu finden, die dies auf sich nehmen», stellt Schaufelberger fest.
In den nächsten 15 Jahren fehlten 300 Personen, die frei werdende Stellen übernehmen könnten, sagt Schaufelberger; deshalb sei zusätzlich der Notfallplan nötig. Aber nur auf diese Zeit begrenzt.
Kritik am Vorhaben
Skeptisch beurteilt der Berner Pfarrer Christoph Knoch (66) das Vorhaben des Konkordats, dem Bern seit dessen Entstehung vor über 160 Jahren aber nicht angehört. Er habe sich gedacht: «In drei Monaten auf die Kanzel – das darf doch nicht wahr sein.» Es sei zu kurzfristig gedacht, dem Fachkräftemangel mit einem Verzicht aufs Studium beikommen zu wollen, sagt Knoch. Zudem sei die traditionelle Ausbildung in Hebräisch und Griechisch hilfreich. «Hätte ich mich allein auf meine Gefühle verlassen, wäre ich oft verlassen gewesen.» Knoch bestreitet jedoch nicht, dass neue Ansätze diskutiert werden müssten, um die personellen Lücken zu füllen.
Auch aus dem eigenen Konkordat erheben sich zweifelnde Stimmen am Notfallplan. «Reformiert» berichtet über Zuschriften von Pfarrern aus Mitgliederkantonen, die von einer «Schnapsidee» oder einem «ungelegenen Weihnachtsgeschenk» sprechen. Ohne spezifische Ausbildung seien Interessierte den Aufgaben an der Basis – Schulunterricht, Predigten in Pflegezentren oder Abdankungen und Predigten halten – kaum gewachsen, befürchten die Kritiker.
Dass überhaupt das Konkordat nun überhaupt über den Plan diskutiere, sei ein «grober Ressourcenverschleiss», beklagt ein Pfarrer. Stattdessen würde eine Kompetenzerweiterung für Sozialdiakone dem Personalmangel weit wirkungsvoller beikommen.
Zustimmung von der Spitze
Der St. Galler Kirchenratspräsident Martin Schmidt (61) dagegen begrüsst die Diskussion über den Notfallplan: «Wir schauen auf die hierarchischen Strukturen der Katholiken, sind aber selbst oft recht unflexibel.» Mit koordinierten, pragmatischen Lösungen kämen die Reformierten jedoch weiter als mit Ideologie, sagt Schmidt.
Grundsätzlich geäusserten Bedenken von Pfarrern, mit einem leichteren Zugang zum Amt würden Erbe, Lehre und Werte der Reformation beschädigt, widerspricht Rita Famos (58). Die Präsidentin der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz sagt dem Blick, der Plan sei der Ausdruck dafür, dass sich die Kirche stets weiterentwickeln müsse. «Wenn das Vorhaben dazu beiträgt, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen und den Dienst der Kirche lebendig zu halten, kann es im reformatorischen Geist stehen», betont Famos.
Sie sehe den Notfallplan «als pragmatische Initiative», um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Famos sagt, sie begrüsse es, dass die Konkordatskirchen das Problem gemeinsam anpackten und eine harmonisierte Lösung suchten. «Ich habe volles Vertrauen, dass die richtigen Fragen diskutiert werden.»
Weniger Lohn
Einige Theologinnen und Theologen befürchten, dass mit dem Vorhaben ihr Studium abgewertet werde. Dem widerspricht Thomas Schaufelberger, Architekt des Notfallplans. Das Engagement von Interessierten mit einem anderen Studienabschluss sorge dafür, dass nicht Bewerber aus freikirchlichen Kreisen, ohne spezifische Ausbildung oder nur mit einer Bibelschule als Hintergrund, in den Pfarrberuf drängen, sagt Schaufelberger.
«Auf der anderen Seite beziehen die über 55-jährigen Einsteiger nur 80 Prozent des Lohns von Pfarrpersonen mit einem Masterabschluss in Theologie.» Das schütze diese, denn sie seien ja auch spezialisierter ausgebildet. Die Pfarrer ohne Diplom erhalten dafür die Sicherheit, dass sie bei einer Anstellung bis zur Pensionierung bleiben können. Im Gegensatz beispielsweise zu Lehrerinnen und Lehrern, die keine stufengerechte Ausbildung haben und nach einem Jahr gehen müssen.
Schaufelberger ist überzeugt, dass das Angebot für über 55-jährige Berufsleute attraktiv sei. Der Theologe glaubt: «Es besteht ein grosses Interesse, im fortgeschrittenen Alter nochmals eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben.»