Zum ersten Mal sind die Schweizer, die sich als religionslos bezeichnen, die grösste Gruppe im Land. Das geht aus einer Umfrage des Bundesamts für Statistik (BFS) hervor. Mit genau 34 Prozent haben die «Ungläubigen» die Katholiken (32 Prozent), die Protestanten (21 Prozent) und andere religiöse Gruppen hinter sich gelassen.
Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne, ist wenig überrascht: «Es ist die logische Folge eines langen, sehr tiefgreifenden Säkularisierungsprozesses», erklärt er. Der Anteil der Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit betrug 1970 nur 1 Prozent. Bis zum Jahr 2000 stieg er auf 11 Prozent und verdoppelte sich dann innerhalb von nur zehn Jahren.
«Jede Generation ist ein bisschen weniger religiös als die vorherige. Die Menschen verlieren zuerst die Praxis, dann nimmt die Bedeutung der Religion im Alltag ab und schliesslich wird als Letztes dieses Gefühl der religiösen Zugehörigkeit aufgegeben.»
Die Jüngeren geben die Religion nach und nach auf
Der Prozess verläuft aber nicht völlig einheitlich. Mehr junge Menschen geben an, keiner Religion anzugehören (42 Prozent der 25- bis 34-Jährigen gegenüber 16 Prozent der über 75-Jährigen), und die Religiosität ist in ländlichen Kantonen immer noch höher als in städtischen Gebieten.
«Viele der Konfessionslosen haben keine religiöse Sozialisierung erfahren», erklärt Jörg Stolz. «Sie besuchen weniger Gottesdienste und nehmen weniger am Religionsunterricht teil.» Dieses Phänomen sei im ganzen Land zu beobachten und hänge weder von Wohnort noch Bildung ab.
Ein «säkularer Wettbewerb»
Laut Jörg Stolz wird Säkularisierung durch die Modernisierung verursacht. Sie bringe neue Lösungen für Probleme mit sich, die früher von der Religion gelöst wurden. Die Religion gab zum Beispiel Sicherheit. «Aber heute haben wir Versicherungen und den Wohlfahrtsstaat. Man kann immer noch beten und praktizieren, aber es wird immer unwichtiger. Dasselbe gilt für persönliche Probleme. Ein Pfarrer oder Pastor kann uns helfen, aber wir haben auch Psychoanalytiker oder ‹Lifecoaches›, die eine ähnliche Funktion erfüllen», sagt der Religionssoziologe.
Es ist also ein «säkularer Wettbewerb», der die Religionen schwächt. Das erklärt auch zu einem Teil, warum in einem Land wie den USA, das seinen Bürgern nicht das gleiche Mass an existenzieller Sicherheit bietet, religiöse Institutionen weiterhin einen sehr wichtigen Platz einnehmen.
Spiritualität – aber anders
Das heisst aber nicht, dass die Schweizer an nichts mehr glauben. Gemäss BFS bezeichnet sich fast ein Drittel der Personen ohne Religionszugehörigkeit als eher oder ziemlich spirituell. «Von diesen Personen glauben etwa 30 Prozent nicht an einen oder mehrere Götter, sondern an eine höhere Macht», kommentiert das BFS seine Zahlen. Insbesondere in schwierigen Momenten des Lebens und bei Krankheit spielten diese Überzeugungen eine grosse Rolle.
«Weniger religiösen Gesellschaften geht es nicht schlechter»
Bleibt die Frage, ob dieser Bedeutungsverlust der Religion die Einzelperson und das Kollektiv bedroht. Hier ist Jörg Stolz vorsichtig: «Es kann sein, dass religiös zu sein dazu führt, dass man zum Beispiel weniger trinkt und weniger raucht.»
Auf kollektiver Ebene «scheint es aber nicht so zu sein, dass es weniger religiösen Gesellschaften schlechter geht», stellt der Professor für Religionssoziologie fest. Auch in sehr weltlichen Ländern hätten die Menschen soziale Werte, seien genauso solidarisch und wüssten, dass man andere nicht belästigen oder Gegenstände stehlen sollte. «Manchmal argumentieren Leute, dass einem die Grundlagen der Demokratie fehlen, wenn man die Religion verliert.» Dabei ist eher das Gegenteil der Fall: In sehr religiösen Ländern ist die Korruption grösser. Oft liegt das aber daran, dass diese Länder in der Regel weniger modernisiert sind, was ihre Institutionen angeht.