Auf einen Blick
- Der Übergriff soll 1994 stattgefunden haben; Scarcella bestreitet den Vorfall
- Rom erteilte Scarcella einen förmlichen Verweis
- Nur der Papst kann Abt Scarcella absetzen
Der Abt von Saint-Maurice, Jean Scarcella (72), steht massiv unter Druck. Einerseits wirft ihm ein Mann sexualisierte Gewalt vor. Andererseits steht Scarcella einer Abtei vor, in der jahrzehntelang Kinder und Jugendliche missbraucht wurden.
Bis zuletzt versuchte Scarcella, die Anschuldigungen gegen ihn unter dem Deckel zu halten. Blick wehrte sich juristisch dagegen und hat von der Walliser Staatsanwaltschaft Einsicht in die Nichtanhandnahmeverfügung erhalten. Aus dem Dokument geht hervor: Ein Opfer wirft Scarcella sexuelle Belästigung vor. Am 14. Oktober 2022 schrieb der Betroffene sogar einen Brief an Papst Franziskus. Der Abt von Saint-Maurice habe ihn «an den Hintern gefasst». Laut der Walliser Generalstaatsanwältin Béatrice Pilloud (49) soll der Vorfall 1994 stattgefunden haben: Das Opfer war damals 15 Jahre alt und Scarcella noch nicht Abt. Scarcella, der sein Amt seit Beginn des Vorverfahrens ruhen lässt, bestreitet den Übergriff. Aufgrund der Verjährung wurde kein Verfahren eröffnet. Im juristischen Sinne ist der Abt unschuldig.
Verweis aus Rom
Abt Scarcella bat laut einer Medienmitteilung das Opfer um Vergebung, will jedoch Abt bleiben – trotz eines Rüffels aus Rom. Wie der Vatikan mitteilte, sei das Opfer «nachhaltig verletzt worden». Aus Sicht von Rom gebe es zwar «keine Beweise für Missbrauch oder Belästigung im eigentlichen Sinne». Doch erteilte Rom Scarcella «einen förmlichen Verweis» und forderte ihn dazu auf, «sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen von allem zu enthalten, was dem klerikalen Stand nicht angemessen ist».
Die Erklärung aus Rom ist ein Schlag ins Gesicht von Missbrauchsbetroffenen. «Wir sind erschüttert. Wer einen Jugendlichen an den Hintern fasst, kann nicht Abt bleiben», sagt Vreni Peterer (63) von der Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld.
Bonnemain: Noch ist nichts entschieden
Der Abt von Saint-Maurice, Jean Scarcella, war für Blick nicht zu erreichen. Der Bischof von Chur, Joseph Bonnemain (76), kann den Unmut der Missbrauchsbetroffenen verstehen. Bonnemain interpretiert den Rüffel aus Rom anders als Scarcella: «Rom lässt offen, ob Abt Scarcella sein Amt weiter ausüben wird.» Noch sei nichts entschieden. Nur der Papst könne Abt Scarcella absetzen, sagt Bonnemain. Allerdings schliesst Bonnemain nicht aus, Scarcella einen Rücktritt vorzuschlagen: «Abt Scarcella nahezulegen, zurückzutreten, ist eine Angelegenheit, die ich persönlich und privat mit dem Betroffenen besprechen würde, nicht über die Medien.»
Schärfer als Bonnemain äussert sich Roland Loos (63), Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz: «Wir gehen davon aus, dass Jean Scarcella nicht in das Amt als Abt von St. Maurice zurückkehren darf und auch nicht wird. Es ist wichtig, dass die Mitglieder der Bischofskonferenz den eingeschlagenen Kurs zur Aufarbeitung des Missbrauchs, zur Prävention und Intervention entschieden mittragen. Die Uneinsichtigkeit, die Jean Scarcella in diesen Tagen zeigt, offenbart uns, dass dies nicht möglich sein wird.»
«Die Abtei braucht einen neuen Abt»
Hinzu kämen viele Meldungen von sexuellen Übergriffen in Saint-Maurice. Roland Loos: «Auch wenn diese strafrechtlich nicht verfolgt werden können, stellen sie moralisch doch alles andere als ein Nichts dar. Herr Scarcella übte seit 2009 als Prior und Generalvikar wichtige Leitungsämter in der Territorialabtei aus, seit 2015 steht er als Abt an der Spitze. Damit trägt er unweigerlich eine Verantwortung für diese Vorgänge. Es ist nicht glaubwürdig, wie er die Person sein sollte, die nun Ordnung in die Abtei bringt und zu einem Kulturwandel beiträgt. Deshalb braucht die Abtei einen neuen Abt.»