Auf einen Blick
Vor einem Jahr ging ein Beben durch die katholische Welt. Historikerinnen der Uni Zürich stiessen in einer Pilotstudie auf mehr als 1000 Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. In den kommenden drei Jahren soll dieses Thema eingehender untersucht werden – doch dabei sind die Forscherinnen auf Vatikan-Akten angewiesen.
Die Geschichtswissenschaftlerinnen Monika Dommann (58) und Marietta Meier (58) vermuten, dass in der Botschaft des Kirchenstaats in Bern und im Vatikan selbst Akten liegen, deren Originale von den Schweizer Bischöfen geschreddert wurden. Ein grosser Teil der Missbrauchsakten «dürfte vernichtet worden sein, bei gewissen lässt sich eine Vernichtung nachweisen», schreiben Dommann und Meier an Bundesrat Ignazio Cassis (63) in einem Brief, den Blick aufgrund des Öffentlichkeitsgesetzes einsehen konnte.
Historikerinnen schlagen Rechtshilfegesuch vor
Die Forscherinnen bitten Cassis darum, «ein Rechtshilfegesuch an das Staatssekretariat des Heiligen Stuhls zu richten, in dem an übergeordnetes Interesse appelliert und in begründeten Einzelfällen um Kopien von Akten ersucht wird».
Doch Cassis gibt den Historikerinnen einen Korb. «Jeder Staat regelt die Frage der Akteneinsicht gemäss dessen innerstaatlichen Bestimmungen. Wir möchten Ihnen deshalb nahelegen, sich an den Apostolischen Nuntius in der Schweiz zu wenden oder Ihre Auftraggeberin, die Bischofskonferenz, um Unterstützung zu bitten», lässt Cassis über eine Beamtin ausrichten.
EDA verweist auf Berset und Amherd
Weiter heisst es, der Bundesrat erwarte von den Kirchen eine effektive Missbrauchsbekämpfung. Sowohl der damalige Bundespräsident Alain Berset (52) als auch Bundespräsidentin Viola Amherd (62) hätten Papst Franziskus (87) auf die Missbrauchsstudie angesprochen und ihre Besorgnis mitgeteilt. «Die Aufarbeitung, der Opferschutz und die Prävention stehen aus unserer Sicht im Zentrum der Diskussionen», so das EDA.
Aber warum versucht Cassis nicht einmal, beim Vatikan eine Akteneinsicht zu erwirken – schliesslich läuft in Rom vieles über persönliche Kontakte und Beziehungen? Dazu das EDA: «Wir haben den Historikerinnen der Universität Zürich mitgeteilt, dass die Schweizer Botschafterin beim Vatikan jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung steht und bereit ist, ihre Erfahrungen mit ihnen zu teilen und weitere offene Fragen zu beantworten.»
Hoffnung für Historikerinnen
Trotz dieser Absage aus Bern gibt es für die Historikerinnen einen Hoffnungsschimmer: Die Nummer zwei im Vatikan, Kardinal Pietro Parolin (69), stellte letztes Jahr gegenüber Blick in Aussicht, die Missbrauchsakten aus dem Glaubensdikasterium könnten möglicherweise zur Verfügung gestellt werden. Wann, lässt der Vatikan-Botschafter in Bern, Erzbischof Martin Krebs (67), allerdings offen: «Der Heilige Stuhl kommuniziert in dieser Frage mit den Verantwortlichen zu gegebener Zeit.»
Unklar ist auch, was nach den Vertuschungsvorwürfen gegen mehrere Schweizer Bischöfe geschehen ist. Der Papst-Botschafter wies darauf hin, das kirchenrechtliche Verfahren sei noch im Gange: «Die Rechtskultur verlangt, dass die zuständigen Behörden während laufender Verfahren keine Mitteilungen an die Öffentlichkeit machen.»