Historiker Bernhard C. Schär über die Rolle der Schweiz während der Kolonialisierung
«Schweizer Söldner waren Fachkräfte für Gewaltausübung»

Der Historiker Bernhard C. Schär ist Experte für die Schweizer Auswanderung – insbesondere für die blutigen Aspekte: Schweizer Soldaten halfen auf der ganzen Welt bei der Kolonisierung. Er sagt auch, ohne Kolonialisierung wären wir nicht so reich, wie wir heute sind.
Publiziert: 31.07.2021 um 16:14 Uhr
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Bernhard C. Schär ist Historiker und spezialisiert auf Schweizer Migration. Er sagt: «Armut und religiöse Verfolgung waren lange Zeit die Hauptgründe für Auswanderung.»
Foto: Stephan Sahm/laif
Interview: Benno Tuchschmid

Kennen Sie die Auswanderersendungen «Auf und davon» und «Adieu Heimat»?
Bernhard C. Schär: Ja, ich mag die nicht besonders.

Wieso?
Diese Sendungen beweisen, dass wir immer noch einen kolonialen Blick auf Schweizer Migration haben.

Wie bitte?
Die Sendungen erzählen zu einseitige Geschichten. Weisse Schweizer gehen in oftmals ärmere Länder, um es dort zu «schaffen». Nie wird thematisiert, wie privilegiert sie sind, dass sie zum Beispiel jederzeit zurückkönnen und durch Sozialwerke abgesichert sind. Und die eigentlichen Erfolgsgeschichten der Migration, nämlich jene der sogenannten Ausländer in der Schweiz, kommen gar nie vor.

Fangen wir ganz von vorne an: Seit wann wandern Schweizer eigentlich aus?
Seit es die Schweiz gibt.

Er forscht zur Schweiz weltweit

Bernhard C. Schär (46) ist Globalhistoriker. Zurzeit forscht er mit einem Stipendium der Europäischen Union an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Januar tritt er eine SNF-Eccellenza-Professur in Lausanne an. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Globalgeschichte der Schweiz und der niederländischen Kolonialgeschichte. 2015 erschien sein Buch «Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900». Es gilt als Grundlagenwerk.

Bernhard C. Schär ist Experte für die Globalgeschichte der Schweiz.
Stephan Sahm/laif

Bernhard C. Schär (46) ist Globalhistoriker. Zurzeit forscht er mit einem Stipendium der Europäischen Union an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Januar tritt er eine SNF-Eccellenza-Professur in Lausanne an. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Globalgeschichte der Schweiz und der niederländischen Kolonialgeschichte. 2015 erschien sein Buch «Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900». Es gilt als Grundlagenwerk.

Wenn wir heute an Schweizer Auswanderer denken, haben wir vor allem verarmte, hungernde Bauern im Kopf, die sich in Übersee mit viel Fleiss eine neue Lebensgrundlage aufbauen.
Armut und religiöse Verfolgung waren während langer Zeit die Hauptgründe für Auswanderung, das stimmt. Aber diese Schweizer Auswanderer waren nicht nur Opfer.

Wie meinen Sie das?
Schweizer, die nach Übersee migrierten, waren Kolonisten, die in einen Raum einwanderten, in dem schon vorher Menschen lebten – und diese vertrieben. Vor allem in den beiden Amerikas, punktuell auch in Asien oder in Afrika. Die Auswanderer waren Teil eines europäischen Expansionsprojekts, das praktisch die ganze Welt unterwarf.

Das klingt brutal.
War es auch. Es ging um Eroberung, Ausbeutung und oftmals auch um physische oder kulturelle Vernichtung. Das zeigt sich jetzt gerade wieder in Kanada, wo im Umfeld von Erziehungsanstalten Hunderte von Gräbern entdeckt wurden – und wir heute wissen, dass auch Schweizer an dieser tödlichen Umerziehung von Indigenen beteiligt waren. Zudem war die Schweiz in ein System involviert, das auf der Ausbeutung von Sklaven basierte.

Welche Rolle nahmen Schweizer bei der Kolonialisierung ein?
Das koloniale System war nicht nur auf eine grosse Masse von Siedlern angewiesen, sondern auch auf gut ausgebildete Fachkräfte. Da spielten Schweizer eine sehr wichtige Rolle.

Fachkräfte wofür?
Fachkräfte für Gewaltausübung. Unsere Forschung zeigt, dass Schweizer Söldner bis ins 19. Jahrhundert nicht nur in Europa für fremde Mächte kämpften, sondern auch zu Tausenden in britischen, französischen und niederländischen Kolonialarmeen dienten.

Wie viele Schweizer Söldner dienten in den Kolonialarmeen?
Bis ins frühe 19. Jahrhundert gab es in vielen europäischen Ländern Schweizer Regimenter. Als diese dann aufgelöst wurden, waren viele Schweizer Söldner arbeitslos – und gingen dorthin, wo es eine grosse Nachfrage gab: rund 30'000 Schweizer zur französischen Fremdenlegion, wo sie für die Eroberung Algeriens und Indochinas gebraucht wurden. In der holländischen Kolonialarmee kämpften ca. 8000 Schweizer.

Wie wichtig waren die Schweizer Söldner für diese Armeen?
Bei den holländischen Truppen können wir das ziemlich genau sagen: Die Schweizer waren im 19. Jahrhundert die drittgrösste Ausländergruppe. Gemessen an der Grösse des Landes war die Schweiz am stärksten vertreten. Und die holländische Armee war das grösste multinationale Unternehmen des 18. Jahrhunderts.

Was waren das für Schweizer, die für Holland Kolonien eroberten?
Es gab einzelne höhere Offiziere, wie den Nidwaldner Landammann Louis Wyrsch, der im holländischen Borneo einen hohen Rang innehatte – und der nach seiner Rückkehr in die Schweiz zu den Mitautoren der Bundesverfassung zählte. Aber mehrheitlich kamen die Söldner aus ärmeren Schichten und wurden von der Aussicht auf Sold und eine lebenslange Rente angelockt. Dafür gingen sie ein enormes Risiko ein. Nur rund 50 Prozent überlebten.

Was verdiente einer wie Wyrsch?
In heutiger Währung rund 170'000 Franken pro Jahr. Dieser Lohn hat es Wyrsch überhaupt ermöglicht, in der Schweiz eine politische Karriere zu machen.

Was verdienten normale Soldaten?
Dazu forschen wir momentan. Ich kann es Ihnen am Beispiel eines Bäckerssohns aus dem Kanton Solothurn schildern, dessen jährliche Pension nach seiner Rückkehr knapp zwei Monatslöhne umfasste. Der musste also weiterarbeiten, aber die Pension brachte ihm doch finanziellen Spielraum.

Die entscheidende Frage heute ist: Hat die Schweiz wirtschaftlich von der Kolonialisierung profitiert, ohne selbst Kolonien zu haben?
Daran besteht kein Zweifel. Ohne die europäische Expansionsgeschichte hätten sich in der Schweiz nicht die Strukturen entwickelt, die bis heute unseren Wohlstand ausmachen: Die Textilindustrie, aus der sich die Finanz-, die Maschinen- und die Pharmaindustrie entwickelten, sowie der Rohstoffhandel entstanden nicht in der Schweiz allein, sondern in imperialen Räumen.

Auch Schweizer Familien, wie jene des Politikers und Industriellen Alfred Escher, sollen am Sklavenhandel mitverdient haben. Es gibt Historiker, die sagen: Man darf Escher nicht an heutigen Moralvorstellungen messen!
Das scheint mir eine unwissenschaftliche Aussage.

Wieso?
Wissenschaftlich geht es um die Frage: Wer vertrat damals welche Moralvorstellungen? Direkte und indirekte Profiteure, wie die Escher-Familie, hatten ihre Moral, die übrigens selbst in Europa umstritten war. Sklavinnen und Sklaven hatten auch ihre Moralvorstellungen: Sie empfanden ihre Versklavung als unrecht und haben sich bereits in Afrika, auf der Überfahrt und auf den Plantagen dauerhaft dagegen gewehrt. Die Frage für uns heute lautet daher: Wem gilt unsere Empathie, wessen Moralvorstellung führt uns eher in eine gerechtere Zukunft: jene der Sklavenprofiteure oder jene der Versklavten?

Wie war das Leben für die Schweizer nach ihrer Rückkehr?
Sie hatten oft mit Misstrauen zu kämpfen, nicht nur in der Schweiz. In England gab es eigens Integrationsschulen für Kinder von Rückkehrern. Sie lernten dort wieder den korrekten englischen Oberschicht-Akzent. Die Alteingesessenen wussten: In den Kolonien gelten andere moralische Regeln. Das betraf vor allem die Sexualität.

Nahmen Söldner ihre Frauen nicht mit?
Nein. Die Holländer glaubten damals, tropisches Klima bekäme europäischen Frauen nicht gut. Aus diesem Grund kreierten sie ein sogenanntes Baracken-Konkubinat, das es Soldaten erlaubte, in der Unterschicht der lokalen Bevölkerung Haushaltshilfen zu rekrutieren. Diese kochten, wuschen – und mussten auch sexuell zur Verfügung stehen. Aus diesen Beziehungen entstanden Kinder. Viele Europäer liessen ihre Kinder zurück. Aber es gibt auch Fälle, wie jener von Louis Wyrsch, wo der Vater seine Kinder in die Heimat mitnimmt.

Er machte in der Schweiz sogar Karriere!
Sein Sohn Alois Wyrsch wurde der am längsten amtierende Landammann von Nidwalden. Er wurde zwölf Mal wiedergewählt. Und war vermutlich der erste nicht weisse Parlamentarier Europas.

Zeigt dieses Beispiel nicht gerade, dass selbst im 19. Jahrhundert Integration und Karriere auch mit Migrationshintergrund möglich war?
Man darf nicht vergessen, dass Wyrsch aus einer privilegierten Oberschichtfamilie kam. Wenn sie in derselben Zeit als Teil einer Völkerschau in die Schweiz kamen, erlebten sie ganz andere Formen von Rassismus. Auch Alois' Schwester Constantia schien darunter gelitten zu haben. Sie wanderte mit zwei Kindern nach St. Louis in die USA aus.

Inwiefern haben Schweizer Auswanderer die Schweiz geprägt?
Eine wichtige Rolle spielten die Schweizer Missionsgesellschaften, die auf der ganzen Welt aktiv waren. Sie waren auf Spenden angewiesen und betrieben Zeitschriften, in denen sie die fremde Welt beschrieben. Da wurden rassistische Theorien verbreitet über heidnische Barbaren und die Unterlegenheit der Afrikaner. Und dann im späten 19. Jahrhundert kam die Konsumkultur, die in Form von sogenannten Kolonialwarenläden exotische Produkte ins Land brachte. In der Werbung wurden auch wieder rassistische Stereotype benutzt. Namen wie der M...kopf stammen aus dieser Zeit – und existieren zum Teil bis heute. Man kann sagen: Das europäische Überlegenheitsgefühl war auch in der Schweiz Konsens.

Sie selbst sind Teil einer schweizerisch-britisch-peruanischen Familie. Wie viel von Ihrem Interesse hat mit Ihrer eigenen Geschichte zu tun?
Wahrscheinlich alles, aber mir war das lange nicht bewusst. Ich hatte lange Mühe mit der Schweizer Geschichte, weil sie zu sehr eine Geschichte der Alteingesessenen war. Da wurde ein Teil von meiner Familiengeschichte nie erklärt.

Wieso ist es wichtig, die Schweizer Geschichte globaler zu denken?
Weil es viele Menschen wie mich gibt. Wir haben 25 Prozent Ausländer, 40 Prozent der Schweizer haben Migrationshintergrund, bald werden es 60 oder 70 Prozent sein. Immer mehr Menschen wollen verstehen, wie ausgerechnet unser Land so globalisiert wurde und was für Folgen das für ihr Leben hat.

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