Die Eisheiligen bescheren uns in diesem Jahr statt letzter Frostnächte die ersten Sommertage. In Bern und anderswo überschritt das Thermometer am Samstag bereits um die Mittagszeit die 20-Grad-Marke. Obwohl die Kalte Sophie vor der Tür steht, muss sich in der Schweiz niemand mehr warm anziehen.
Perfektes Badiwetter also? Das ist Ansichtssache – oder eine Frage der Einstellung: Während Hartgesottene sogar winters in die Aare steigen, stecken andere allerhöchstens mal den grossen Zeh ins maximal 13 Grad kühle Nass.
Zur ersten Kategorie gehört Sabrina Schär (28). «Richtig atmen ist dabei ganz wichtig», sagt die Bernerin zu Blick, nachdem sie beim Marzili dem Fluss entstiegen ist.
Viele sind es allerdings nicht, die sich am Eröffnungstag der Berner Frei- und Flussbäder schon eine derart heftige Erfrischung gönnen. Wer es wie Schär trotzdem tut, erntet bewundernde Blicke und die Anerkennung von Touristen, die am Ufer entlang flanieren: «Amazing!»
«Geduuuuuuuld»
Auf der Aareguru-App, die vermutlich jede und jeder in der Bundesstadt installiert hat, heisst es seit Stunden und Tagen: «Geduuuuuuuld», die Wassertemperatur steigt nur gaaaaaaanz langsam. Um 10 Uhr sind es 10,1 Grad, um 13 Uhr 11,5. «Für mich ist das mentales Training», sagt Schär, die Schwimmerin, die ansonsten als Teamleiterin Pflege im Inselspital arbeitet. «Es geht darum, den inneren Schweinehund zu überwinden.»
Bern und sein Fluss: Das ist eine Liebesbeziehung. Auch Marcel Leemann (55) schreibt sie fort, wann immer er in der Hauptstadt weilt. Der Choreograf und Co-Direktor des Tiroler Landestheaters in Innsbruck (A) besucht hier am Wochenende seine Sprösslinge. «Flusskinder», seien die beiden, sagt Schär, aufgewachsen im Lorrainequartier, Heimat der vielleicht schönsten Badi der Schweiz.
An diesem Ort – und das macht seinen Charme aus – ist nichts perfekt. Mal abgesehen von der Curry-Mayonnaise, die in der Buvette zu den Pommes serviert wird. Alles wirkt improvisiert, entspannt, nirgends ist Bern mediterraner. Kuno Lauener, Sänger der Band Züri West, hat das Lorrainebad in seinem Song «Fisch» mit der Zeile verewigt: «Dr Summer isch genauso schön wie du.»
Ein Kästli im Lorrainebad
Leemann, gelbe Badehose und goldverspiegelte Pilotenbrille, klettert nach seinem zweiten Taucher die Leiter aus der türkis schimmernden Aare hoch. Noch tropfend sagt er: «In der Lorraine herrscht Strandstimmung. Wer hier wohnt, geht in Badehosen zum Haus raus. Mindestens einmal am Tag. Eher zweimal.»
Doch ums Baden geht es am ersten Tag noch nicht unbedingt. Für die Stammgäste ist es ein Wiedersehen nach viel zu langen und zu kalten Monaten. Man holt die Schlüssel fürs «Kästli», in dem die Badehose im besten Fall bis Herbst nie richtig trocken wird. Man trinkt Kaffee unter einem der bunten Sonnenschirme oder gönnt sich, wie Laura Tuominen (26) und ihre Tochter Smilla (2), eine Portion Frites. Selbstverständlich mit dieser göttlichen Sauce.
Silvia Theiler (68) und Randolph Page (73) sind zum Tanzen ins Lorrainebad gekommen. Aus einem kleinen Lautsprecher erklingen Salsa-Rhythmen, das Paar wirbelt gefährlich nah, aber gekonnt am Beckenrand entlang. Page, der seit mehr als 30 Jahren hierherpilgert, gerät bereits in Ferienstimmung, wenn er den schmalen Weg durchs Wäldchen zum Fluss hinunter nimmt: «Andere haben ein Häuschen im Tessin, ich hab mein Kästli im Lorrainebad.»
Renaturierung statt Privatisierung
Die Stadt Bern will das beliebte Flussbad in den nächsten Jahren sanieren. Gegen eine Privatisierung haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner erfolgreich gewehrt. Jetzt soll eventuell renaturiert werden. Auf jeden Fall aber muss die in die Jahre gekommene Infrastruktur auf Vordermann gebracht werden. Theiler und Page sind nicht die Einzigen, die befürchten, dass mit dem Bauvorhaben der Charme der Badi verlorengehen könnte. Ihr «Shabby Chic», die Graffiti-besprayten Wände und das von Zeit und Sonne gebeizte Holz der Umkleidekabinen gehören einfach dazu. So wie die Entenfamilien, die hier, inmitten der Badegäste, fast jedes Jahr ihre Jungen aufziehen und nach den Zehen von Leuten schnappen, die ihre Füsse zu weit über den Teich baumeln lassen.
Um die Mittagszeit eröffnet die Gelateria di Berna vor dem Marzili. Erste Hungrige bestellen Cornets und Chübeli, später rechnen die Verkäuferinnen des berühmten Glaceladens mit einem Grossandrang. Sie wissen aus Erfahrung: Steigen die Temperaturen, wächst die Menschenschlange vor dem Lokal ins Unendliche. Besonders beliebt: die Geschmacksrichtung «Mare di Berna», der Klassiker in der Auslage. Wer das Besondere sucht, testet an diesem Wochenende Glace aus japanischen Bohnen oder auf der Basis von Rapsöl.
Rückwärtssalto, bevor der Regen kommt
Milan Esseiva will sich derweil im Freibad auf der anderen Strassenseite seine Glace erst noch verdienen. Der Zehnjährige springt im Marzili immer wieder vom Dreimeterbrett. «Streck die Beine», motiviert ihn die Mutter vom Beckenrand aus. Ihr Sohn sei ein absolutes «Wassertierchen», den ersten Baditag habe er richtiggehend herbeigesehnt. Nun, da es so weit ist, strahlt Milan über beide Ohren. Bis im Herbst will er den Rückwärtssalto schaffen, sagt er, noch ganz ausser Atem – und klettert abermals den Sprungturm hoch.
Gegen Nachmittag strömen immer mehr Gäste in die Badis. 13 Grad erreicht die Aare an diesem ersten Sommertag des Jahres in Bern dann doch nicht ganz. Aber es bleibt ja noch Zeit. Mitte nächster Woche soll es gemäss Meteo News allerdings schon wieder regnen. Wer nach diesem Traumwochenende einen Sonnenbrand auskurieren muss, darf sich freuen.