Die Schweiz sieht im Sommer immer wieder anders aus. Da ist das Rheinufer in Basel. Menschen schlendern im Schatten der Platanen umher. Ein Bärtiger im hautengen Lycradress manövriert sein Rennvelo durch die Leute. Ein anderer setzt sich ans Wasser, holt ein Sandwich aus der Freitag-Tasche. Mitten unter ihnen tauchen Barfüssige mit weiter nichts als Badehosen und Bikini auf, am Ufer suchen sie den Einstieg ins Wasser und treiben der Nordsee entgegen.
Oder am Abend in Zürich am See. Ein Meer aus Frotteetüchern überdeckt den Rasen, Körper überall, drahtig, dick, feuerrot oder lederbraun und vollgepappt mit Tattoos. Manche stehen wadentief im Wasser. Andere kommen mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und loser Krawatte, verschwinden hinter dem Badi-Drehkreuz, im See werfen sie sich auf den Rücken und ziehen davon.
Der Sommer in der Schweiz findet im Wasser statt. Der lange Winter im Café, auf der Skipiste und im Kino ist nur eine Übergangslösung, bis man wieder dorthin kann, wo man sich daheim fühlt: am See, am Fluss, im Freibad. Hier, zwischen Gelato und Sprungbrett, zwischen der Lektüre unter Bäumen und Kraulschwimmen, macht der stressige Alltag eine Pause.
Wasserwunder Schweiz
890'000 Gäste zählte vergangenes Jahr das Marzili in Bern an der Aare – das grösste Freibad der Schweiz. Fast eine Million Eintritte gibt es alleine in den Zürcher Seebadis – doppelt so viele wie in den Freibädern mit Bassins der Stadt. Unzählige andere vergnügen sich abseits der grossen Anlagen irgendwo zwischen Genfer- und Bodensee.
Patrick Schoeck vom Schweizer Heimatschutz hat sich mit der Geschichte der See-, Fluss- und Freibad-Anstalten befasst, 600 sind es im ganzen Land. Er sagt: «Die Schweiz ist ein Badi-Land.» Das Wasser der Gewässer ist so sauber wie fast nirgends um uns herum. «Das gibt es in keinem anderen Binnenland.»
Dahinter steht ein Effort. Lange hat die Schweiz kein richtiges System von Kläranlagen. Kloabfälle, Gülle von den Feldern – alles landet in den Gewässern. Dann kommt 1971 das Gewässerschutzgesetz mit Vorschriften und Abwasserreinigungsanlagen. Heute sieht man in den Flüssen und Seen auf den Grund.
Das beschäftigt uns im Sommer ebenfalls
Blütteln ist früh Thema
In den See hüpfen die Menschen schon weit vorher. Das Baden gehört seit je zur Schweiz – und sorgt schon lange für Ärger. Das zeigt ein Blick in das Buch «Der See und die Menschen» von Peter Ziegler.
Schon 1525 schreitet in Zürich das Stadtparlament ein und verbietet den heimischen Lausebengeln, von den Wasserrädern in die Limmat zu springen – das «geschrey und brüelen» der Badenden! Zwinglianische Füdlibürger.
Wirklich viel bringt es nicht. Auch wenn die meisten nicht schwimmen können – manche ertrinken –, sie planschen weiter. In Zürich basteln experimentierfreudige Buben aus Schilf Päckchen, schnüren diese zu einem Floss zusammen, und paddeln bäuchlings darauf auf den See hinaus. Andere binden sich aufgepustete Tierblasen und Kürbisse mit einem Gürtel um den Bauch, um ihre Köpfe über Wasser zu halten. Was zu jener Zeit noch sein darf und später nicht mehr: Frauen und Männer baden gemeinsam.
Einiges wissen wir heute von dem Schweizer, der das weltweit erste Werk über die Schwimmkunst geschrieben hat: Nikolaus Wynmann (1510-1550). In «Colymbetes, sive de arte natandi» aus dem Jahr 1538 leitete er an: «Du wirst es beinahe spielend lernen, wenn du recht sorgfältig zusiehst, wie die Frösche mit den Hinterbeinen schwimmen.»
Das Buch lässt bei den Klerikern die Halsschlagadern anschwellen. Sie finden es unerhört, dass ausgerechnet der Mensch, die Krone der Schöpfung, etwas vom Tier lernen soll. Wynmanns Schwimmbuch kommt auf den Index.
Blasphemie ist später nicht mehr das Problem. Ein anderes zieht auf.
1775 badet Johann Wolfgang von Goethe mit Freunden splitternackt im Zürichsee – und muss sich wegducken, weil Fussgänger Steine nach ihnen werfen. «Nackte Körper jedoch leuchten weit, und wer es auch mochte gesehen haben, nahm Ärgernis daran», schreibt er in sein Reisebuch. Bern schränkt dreissig Jahre später das Bädelen ein, weil «erwachsene Mannspersonen und Knaben, ohne mit Schamtüchern versehen zu sein, durcheinander baden und oft nackt auf der Strasse herumlaufen».
Egal, wie und wo man über die Jahrhunderte hinweg badet: Nie ist es den Obrigkeiten geheuer. Die Moral regiert. Ganz besonders ab dem 19. Jahrhundert: Baden entwickelt sich zum neuen Hobby der breiten Bevölkerung. Die Badekultur entsteht. In dieser Zeit zeigt sich laut Kunsthistoriker Patrick Schoeck: «Die Art, wie wir baden, und die Badis sind ein Abbild der gesellschaftlichen Bedürfnisse.»
Treiber ist die Industrialisierung. Sie schaufelt die Menschen in Massen in die Städte, und die müssen sich ja irgendwo waschen. Badezimmer gibt es noch keine, und die Angst vor Krankheiten geht um. Sie strömen ans Wasser. Haben null Privatsphäre. Neues Ungemach zieht auf: Auch immer mehr Damen springen freudig in rockartigen Schwimmkleidern aus Baumwolle ins Wasser. Der Haken: Das Stöffli zeigt zu viel. Skandal!
Strikt getrennt: Mann und Frau
Die Historikerin Eva Büchi hat die Stimmung von damals in ihrer Dissertation «Als die Moral baden ging» aufgearbeitet. Sie zeigt: Die Prüderie hat praktische Folgen. Es ist die Geburtsstunde der Badeanstalten.
Den Anfang macht das Kastenbad aus Holz. Der Vorteil in den Augen der Gemeinden und Kleriker laut Büchi: «Die Holzhütten schirmen die Badenden gegen die Blicke von aussen ab.» Die ersten stehen in den Städten. Danach schiessen sie im ganzen Land – etwa in Rorschach SG, Romanshorn TG, Arbon TG, Steinach SG, Lindau ZH – aus den Ufern.
Überall verordnen die Moralapostel den Anstalten hohe Trennwände in der Mitte. Männer und Frauen sollen sich auf keinen Fall begegnen. So auch in den Strandbädern, die bald folgen. Anders will es Weggis LU am Vierwaldstättersee machen. 1919 richtet es ein offenes und geschlechtergemischtes Strandbad ein – das erste in der Schweiz. Ein Kulturkampf entbrennt, die Priester gifteln von der Kanzel herab Richtung «Schandbad» – der Kanton verhängt daraufhin ein Fotografierverbot, die Männer dürfen nur noch mit einem brustbedeckenden Badekostüm hinein. Eva Büchi sagt: «Je katholischer die Gegend, umso länger hat man an der Trennwand festgehalten.»
100 Jahre später sind die Verbotsschilder verschwunden, alle sind wir frei. Auch wegen der vielen Beton-Freibäder, die sich ab den Sechzigerjahren in der Schweiz ausgebreitet haben und wo Eltern Stunden mit ihrem Nachwuchs im pipiwarmen Kinderbecken verbringen. Auch anders ist: Wildbader drängen in Massen an die Gewässer. An Hitzetagen wie heute bauen sie an den Ufern am Boden- oder Neuenburgersee Burgen aus Badetüchern und Kühlboxen. Oder sie reihen sich in Bern in die Kolonne der flussaufwärts Spazierenden ein, um beim Runtertreiben dem Aaresound – dem klirrenden Klang der rollenden Kieselsteine – zu lauschen.
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