Fussball ist die letzte kollektive Ekstase
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BlickPunkt zum EM-Wunder:Fussball ist die letzte kollektive Ekstase

BlickPunkt über die landesweite Fussball-Euphorie
Die letzte kollektive Ekstase

Die Schweiz ist auf vielen Feldern global führend. Und doch weckt kaum etwas so viele Emotionen wie unsere Nati. Sie vermittelt eines der letzten gemeinsamen Erlebnisse in der individualisierten Gesellschaft.
Publiziert: 03.07.2021 um 01:32 Uhr
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe.
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Luca Loutenbach (28) zerreisst es fast auf seinem Tribünenplatz. Er ist Augenzeuge, als die Schweizer Fussball-Nati gegen Weltmeister Frankreich kämpft – und «Les Bleus» aus dem Turnier kippt. Die Bilder des jurassischen Fussballfans gehen um die Welt, Londons Bürgermeister nennt ihn «Man of the Match».

Loutenbach steht für unser ganzes Land: Die Schweiz fieberte diese Woche geschlossen, aufgekratzt und voller Stolz dem Viertelfinal entgegen – die Fans sowieso, aber auch alle, denen der Sport sonst egal ist.

Nichts hat die Eidgenossenschaft in jüngster Zeit derart aufgewühlt wie dieser grösste Erfolg einer Schweizer Nati seit 67 Jahren.

Obwohl es andere, bedeutendere Erfolge gibt: Die Schweiz ist Weltmeisterin in etlichen Wirtschafts-Disziplinen, ETH und EPFL rangieren in der globalen Wissenschaft ganz oben, wir haben den längsten Tunnel der Welt, geniessen die höchste Lebensqualität, die grössten Freiheiten und den erfolgreichsten Tennisspieler der Geschichte. Wieso aber setzt bei uns nichts so viele Emotionen frei wie das Wunder bei der Fussball-EM?

Zum einen lebt Fussball vom Augenblick, das Spiel ist so unberechenbar wie überraschend. Eine Zehntelsekunde kann alles entscheiden. Yann Sommer wehrt den Penalty ab – und das Wunder ist vollbracht! In diesem Moment hiessen wir alle Loutenbach. Natürlich freut sich die Schweiz auch, wenn Roger Federer nach stundenlangem, einsamem Kampf gewinnt – einen Autokorso durch unsere Städte hat er bisher noch nie ausgelöst.

Zum anderen macht jeder Sieg jeden glücklich, während die Niederlage spaltet. Nach den ersten kraft- und emotionslosen Spielen unserer Elf fetzte sich das Land über Tattoos, Frisuren und Protzkarossen der Spieler. Am Montag um 23.47 Uhr war all das wie weggeblasen.

Der wichtigste Punkt aber: Fussball ist das letzte Gemeinsamkeit stiftende Erlebnis unserer individualisierten Gesellschaft – die letzte Show, bei der das ganze Land zur gleichen Zeit vor den Bildschirmen sitzt und mitfiebert.

Früher erlebten wir viele solcher Sternstunden, die grossen Shows machten uns zum Kollektiv: Alle strömten ins Kino, wenn ein neuer «James Bond» gezeigt wurde. Die Deutschschweiz schaute am Samstagabend auf dem einzigen TV-Sender «Wetten, dass ..?» oder «Benissimo». Jedes Dorf marschierte geschlossen an den Turnerabend oder ans Konzert der Musikgesellschaft – und tanzte bis in den frühen Morgen.

Heute konsumiert jeder seine Emotionen «on demand» aus einem unerschöpflichen Angebot von Netflix, Spotify, Youtube, E-Sports. Selbst in den Schachklub muss niemand mehr, weil virtuelle Spielpartner rund um die Uhr bereitstehen. Auch nationale Berühmtheiten gibt es kaum noch: Jede Community bewundert ihre eigenen Stars.

Wir sind digitalisiert und individualisiert – nur im Fussball nicht: Der Match ist der letzte Event, den wir zur gleichen Zeit erleben, und das letzte Thema, über das die ganze Nation tagelang redet.

Fussball: die letzte kollektive Ekstase!

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