Am Mittwoch besuchte ich einen Kurs, der in unserem Haus für Führungskräfte obligatorisch ist. Es ging um «Unconscious Bias», also um unbewusste Vorurteile, die sich aus der Evolution ergeben. So rekrutiert ein Chef oft unbewusst Mitarbeitende, die ähnlich sind wie er selber. Und wer stellt sich beim Gedanken an einen Firmenchef nicht eher einen gesetzten Herrn mit Krawatte vor als eine jüngere, lebenslustige Frau?
Einem ähnlichen Phänomen fiel Guy Parmelin (61) zum Opfer, als er zum Bundespräsidenten für das Jahr 2021 gewählt wurde. Ein Waadtländer Weinbauer ohne Uni-Abschluss an der Spitze unseres Landes?!
Die CH-Media-Zeitungen fragten damals bang: «Wird das gut gehen? Wird der eher ungelenke Kommunikator die passenden Worte finden?»
Die «NZZ» schnödete über seinen «selten gezeigten Führungswillen»; Parmelin denke nicht in grossen Linien, sondern in kleinen Schritten, er sei kein Stratege, viel eher ein Verwalter.
Der «Tages-Anzeiger» machte sich über «Papa Parmelin» lustig. Das Zürcher Blatt bezeichnete den neuen Bundespräsidenten als «langfädig, ausufernd, eher schlingernd als schleppend. Schwierig».
Nach knapp der Halbzeit seines Präsidialjahres hat Guy Parmelin alle überrascht.
Er führt den Bundesrat tadellos. Er lebt Kollegialität und feuert keinerlei Querschüsse ab. Er stellt sich vor seinen Kollegen Berset, wenn Parmelins Partei, die SVP, ihn als «Diktator» bezeichnet, und vor den Kollegen Cassis, wenn jemand die Schuld für den EU-Knall dem Tessiner in die Schuhe schiebt.
Er hat beim Spitzentreffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (62) einen makellosen Auftritt hingelegt – souverän im Auftreten, klar in der Sprache. Vielleicht nicht glamourös, aber staatsmännisch.
Wer in Parmelin bisher einen blinden Parteisoldaten gesehen hat, sieht sich ebenfalls getäuscht: Er führt sein Amt unabhängig, wie sich diese Woche wieder zeigte, als er Impfen zum «Acte citoyen» ausrief, zur Bürgerpflicht, während die SVP nicht nur dem Covid-Zertifikat kritisch gegenübersteht.
Vor allem ist Parmelin in keines der vielen Fettnäpfchen getreten, die für einen Bundespräsidenten an jeder Ecke bereitstehen.
Schon übernächste Woche wird er in Genf US-Präsident Joe Biden (78) begegnen, vielleicht auch Russlands Präsident Wladimir Putin (68).
Parmelin ist gewiss kein charismatischer Bundespräsident. Er verkörpert vielmehr den biederen Schweizer Durchschnitt. Das ist ziemlich unspektakulär, aber erfolgreich.
Und so steht Parmelin nicht zuletzt für eine gute alte Erkenntnis: Statt billige Klischees zu pflegen, lohnt es sich, jeder und jedem eine echte Chance zu geben.
Wie gut jemand ist, erweist sich nämlich nicht im Kopf des Betrachters, sondern in der täglichen Praxis.