Milena Moser
Schlimmer geht immer

Der Himmel ist gelb verhangen, der Rauch von über siebzig Waldbränden hängt in der Luft und erfüllt sie mit einem giftigen Gestank. Der Bevölkerung wird geraten, das Haus nicht zu verlassen. Doch wir sind unterwegs. Wieder mal.
Publiziert: 30.08.2020 um 16:49 Uhr
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Aktualisiert: 04.09.2020 um 15:31 Uhr
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Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Ich fahre, ohne nachzudenken, den Weg würde ich im Schlaf finden, so oft habe ich ihn in den letzten Jahren zurückgelegt. So oft, dass sich bei gewissen Strassenverläufen und Abzweigungen sofort dieser vertraute Knoten im Magen bildet. Auch wenn ich gar nicht in die Notaufnahme fahre. Wie lange ist es her? Das weiss ich genau: Fünf Monate, drei Wochen und zwei Tage sind seit Victors letztem Aufenthalt im Parnassus Inn, der Uniklinik an der Parnassus Avenue, vergangen. Lange genug, dass sich eine unverbesserliche Optimistin wie ich schon in Sicherheit wiegte. Ich habe verdrängt, was die Kardiologin, die Victor «Doctor Goddess» nennt, vor kurzem erst gesagt hat: «Sie sind noch lange nicht über den Berg.» Und: «Sie haben keine Ahnung, wie schlecht es um Sie stand.»

Sie hat Victor nach seinem ersten Herzinfarkt vor mehr als fünfzehn Jahren ins Leben zurückgeholt. «Wissen Sie, wo Sie sind?», fragte sie ihn, als er wieder zu sich kam. «Wissen Sie, was passiert ist?»

«Ich bin offenbar gestorben», sagte er. «Und Sie müssen Gott sein. Ich wusste immer, dass Gott eine schöne Frau ist.» Der Name ist ihr geblieben. Unterdessen leitet sie die Kardio-Reha-Klinik, wo sie Victor zu ihren Vorzeigepatienten zählt. Von seiner letzten Operation hat er sich so gut erholt, dass er schon übermütig wurde und sie ihm ins Gewissen reden musste. «Genesung braucht Zeit.» Wir haben ihre Warnung beide ignoriert.

Fünf Monate, drei Wochen und zwei Tage sind eine lange Zeit, vor allem jetzt. So viel hat sich verändert. Alles hat sich verändert. Kalifornien ist eines der Epizentren der Pandemie, der Virus ist trotz sehr viel strengeren Sicherheitsmassnahmen noch längst nicht unter Kontrolle. Das weiss ich natürlich, und doch ...

«Sorry, Sie dürfen nicht mit rein», heisst es am Eingang. «Corona, Sie wissen ja.» Der Ton ist entschuldigend, auf Protest gefasst. In Amerika sind die Angehörigen unverzichtbarer Teil jedes Krankenhausaufenthalts. Sie übernehmen eine wichtige Rolle in der Betreuung, all die kleinen Handreichungen, für die das Pflegepersonal keine Zeit hat. Und selbst wenn sie nur im Wartezimmer sitzen, sie sind da. Das akzeptiert auch der strengste Arbeitgeber. Und so halte ich es seit sechs Jahren auch: Wenn Victor im Spital ist, bin ich das auch. Und jetzt darf ich zum ersten Mal nicht bei ihm bleiben, nicht einmal im Wartezimmer. Auch wenn ich es verstehe, halte ich es fast nicht aus. Als ob meine physische Anwesenheit etwas bewirken oder verhindern könnte. Magisches Denken nennt man das bei Kindern.

Ich lungere vor dem Eingang herum, bis ich auch da weggeschickt werde. Dann sitze ich im Auto, ohne den Motor anzulassen. Ich werde einfach in der Tiefgarage bleiben, denke ich. Die ist schliesslich 24 Stunden geöffnet.

Doch da schrillt mein Handy. Es ist Victor.

«Geh nach Hause», sagt er. «Jemand muss die Katzen füttern.» Normalerweise sind Handys in der Notaufnahme verboten. Doch das Pflegepersonal weiss, was das Fehlen der Angehörigen bedeutet, und versucht es so gut wie möglich aufzufangen. Er sei besser behandelt, dichter betreut worden als sonst, wird er mir erzählen, als ich ihn dreissig Stunden später wieder abhole. Natürlich ist alles gut gegangen, auch ohne mich. Er ist wieder zu Hause und bester Dinge. Als sei nichts gewesen. Ich hingegen, ich muss mich erst noch erholen.

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