Krieg vernichtet, er zerstört Menschenleben, ruiniert die Infrastruktur, vergiftet die natürlichen Lebensgrundlagen. Er vernichtet aber auch imaterielle Güter, Gewissheiten, korrumpiert ethische Haltungen, die Sprache und bricht so manches Rückgrat.
Ein besonders deutliches Beispiel für diese Tatsache ist die kurze Rede des Zürcher Ständerats Daniel Jositsch von vergangenem Montag, 6. März 2023, mit der er im Plenum seine Ablehnung der Motion Burkart begründete. Mit diesem Vorstoss sollte der Bundesrat beauftragt werden, «dem Parlament eine Änderung des Kriegsmaterialgesetzes vorzulegen, die vorsieht, dass auf eine Nichtwiederausfuhr-Erklärung vollständig verzichtet werden kann, wenn die Lieferung an Staaten erfolgt, die unseren Werten verpflichtet sind und über ein Exportkontrollregime verfügen, das dem unsern vergleichbar ist».
Es lohnt sich, Jositschs Argumente in ihrer Gänze zu studieren. Seine Rede ist ein Dokument der Geschichtsklitterung und der Unmenschlichkeit.
Jositsch behauptet, es sei die schweizerische Neutralität gewesen, die es der Schweiz ermöglichte «in den letzten 200 Jahren nicht in internationale Konflikte – insbesondere in den Ersten und Zweiten Weltkrieg – involviert zu werden».
Wo die Schweiz überall mitspielte
In aller Kürze hier die historischen Fakten: Die Wehrmacht überfiel die Schweiz vor allem deswegen nicht, weil die Eidgenossenschaft in vielfältiger Weise mit den Nazis kollaborierte, unter anderem als Lieferantin von Rüstungsgütern.
Im spanischen Bürgerkrieg war die neutrale Schweiz Franco-freundlich. Die Behörden anerkannten ab 1939 keine Flüchtlinge aus Spanien. Im Gegensatz dazu wurden die Mitglieder der Internationalen Brigaden, die auf der Iberischen Halbinsel für die Republik und die Demokratie kämpften, von der neutralen Schweiz strafrechtlich verfolgt und gesellschaftlich geächtet. Als erste Demokratie anerkannte die Schweiz das Franco-Regime noch vor Ende des Bürgerkriegs.
Jositschs neutrale Schweiz unterhielt beste Beziehungen zum Apartheid-Regime in Südafrika und unterstützte die Rassisten am Kap nachrichtendienstlich, wirtschaftlich und militärisch. Das Uno-Embargo wurde kreativ und mit kriminellen Methoden umgangen. So ermunterte der schweizerische Botschafter die Regierung in Pretoria, die entsprechenden Wirtschaftsstatistiken zu fälschen.
Heute findet man diese Informationen auf Wikipedia, aber es hat Jahrzehnte gebraucht, um die historischen Fakten ans Licht und ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Historikerinnen und Historiker bemühten sich gegen den erbitterten Widerstand der offiziellen Schweiz um die Ermittlung der Wahrheit. Der Bergier-Bericht konnte unserem Land nur unter grösstem internationalen Druck abgerungen werden, die Südafrika-Akten wurden vom Bundesrat nach der Intervention der hiesigen Wirtschaft wieder verschlossen.
Ein nationales Wir zu konstruieren, wäre unmöglich
Für den Sozialdemokraten Jositsch und sein revisionistisches Geschichtsbild spielen diese Fakten keine Rolle, auch nicht, dass es vornehmlich Mitglieder seiner eigenen Partei waren, die unter der sogenannten Neutralitätspolitik litten. In Spanien kämpften Sozialisten für die Republik und gegen die Faschisten. Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass ausgerechnet ein Parteikollege ihre rechtliche Rehabilitierung im Parlament durchsetzte: Bis vor kurzem sass Jositsch mit dem mittlerweile zurückgetretetenen Paul Rechsteiner im Ständerat.
Jene Bürgerinnen und Bürger, die an der Selbstgerechtigkeit der offiziellen Schweiz rüttelten, in der Politik, an den Universitäten, in den Redaktionen, all jene, die dieses Zerrbild der neutralen, unbeteiligten Schweiz geraderücken und den Opfern dieser von Jositsch beschworenen schweizerischen Neutralität zum Recht verhelfen wollten, taten dies während Jahrzehnten unter grossem persönlichem Risiko. Aber auch die flächendeckende Bespitzelung der eigenen, unangenehmen, kritischen Bevölkerung durch die Bundespolizei dieser neutralen Schweiz, die Zerstörungen von Lebensläufen, die Kriminalisierung einer oppositionellen Haltung, hat der sozialdemokratische Ständerat aus seinem historischen Gedächtnis gestrichen.
Er muss diese Fakten ignorieren, sonst könnte er sich nicht auf den Stolz und die nationale Herkunft berufen. Als Mitglied einer Partei, die einst an die internationale Solidarität glaubte, wäre es ihm unmöglich, eine nationalistisches Wir zu konstruieren und folgende Sätze zu äussern: «Wir sind ja auch stolz auf die Neutralität. Wir reisen gerne durch die Welt mit dem Schweizer Pass. Wir sind überall herzlich willkommen, werden überall geschätzt.»
Jositsch stellt sich auf die Seite von Putin
Ganz abgesehen vom tatsächlichen Glaubwürdigkeitsverlust durch die Unterstützung so ziemlich sämtlicher Potentaten dieser Welt und der zunehmenden aussenpolitischen Isolierung der Schweiz, wäre die öffentlich zur Schau gestellte Deformation eines historischen Bewusstseins traurig und erbärmlich genug. Aber Jositsch bezeugt am Montag eine Arroganz und Kälte, die auch jene erschaudern lässt, denen die geschichtlichen Fakten wenig geläufig sind, all jene, die ihre Moral noch nicht vollständig dem Opportunismus geopfert haben. Wörtlich sagte Jositsch im Rat: «Wenn man nicht auf der Seite des Guten steht, dann hilft man, wenn Sie so wollen, dem Bösen, dem Aggressor. Aber das muss man aushalten, wenn man neutral ist, das ist so, das ist unangenehm. Wenn Sie sagen, Sie wollten das nicht: Bitte sehr, dann ändern Sie die Bundesverfassung, machen Sie eine Volksabstimmung!»
Ständerat Jositsch stellt sich öffentlich und im Namen einer von ihm beschworenen Neutralität auf die Seite eines Regimes, dem das menschliche Leben nichts gilt und ein friedliches Nachbarland mit einem Vernichtungskrieg überzieht. Jositsch nimmt es hin, dem von ihm selbst bezeichneten Bösen zu helfen, einem Kriegsverbrecher, dessen Armee in der Ukraine die Zivilbevölkerung foltert, ermordet und vergewaltigt, und er behauptet, die Neutralität würde dieses Verhalten erfordern und die Bundesverfassung einen Befehlsnotstand erzwingen. Jositsch führt diese perverse Logik, die den Tod Hunderttausender als neutralitätspolitische Nebenkosten verrechnet, im Ständerat aus, im Herzen unserer Demokratie, unseres Rechtsstaates, zwei Dinge, die Putin aufs Blut hasst und mit allen Mitteln vernichten will.
Was führt Jositsch in diesen unmenschlichen Zynismus?
Das Resultat wäre eine Sprache der Verantwortung
Jositsch wird nicht der Einzige sein, und die Frage bleibt, was die Gründe für diese zynische und unmenschliche Haltung sein könnte. Der Ständerat verweist auf die persönliche Härte, die seine Haltung erfordere. Er behauptet, dass man die Neutralität aushalten müsse, aber das, was ihn quält, ist natürlich nicht die Neutralität, es ist sein Gewissen.
Die Entscheidungen, vor die uns ein Krieg wie jener in der Ukraine stellt, sind existenziell, und das gilt besonders für Menschen in politischer Verantwortung. Im Krieg geht es um Leben und Tod, um Freiheit und Sklaverei. Ein gewählter Volksvertreter wird mit sich ringen, und es ist Teil der politischen Verantwortung, in seinen Worten die Zweifel und den inneren Kampf zum Ausdruck zu bringen. Das Resultat wäre eine Sprache der Verantwortung, der Empathie und des Mitgefühls. Ungeachtet der Entscheidungen, die getroffen werden müssen, würde dies der Bevölkerung ermöglichen, ihre eigenen Ängste gespiegelt und adressiert zu sehen, und nicht nur rational, sondern auch emotional zu verstehen, was in diesen, unseren Tagen in der Ukraine verteidigt werden muss. Es ist die Verantwortung der demokratisch gewählten Volksvertreterinnen, mit klaren Worten aufzuzeigen, in welcher Konfrontation Europa steht. Nicht die Neutralität wird angegriffen, es ist die Freiheit, jene der Menschen in der Ukraine, unsere eigene und die Freiheit unserer Kinder. In diesem Moment, in diesen Stunden und Tagen entscheidet sich, in welcher Welt sie leben werden. Ob die brutale Gewalt siegt, das Recht des Stärkeren, die Barbarei, oder ob wir als freiheitliche Gesellschaft die Kraft haben, uns dem modernen Faschismus, dem Zynismus und der Vernichtung in den Weg zu stellen.
Der Zürcher Ständerat ist dieser historischen Situation nicht gewachsen. Er ist nicht bereit, sich mit ihr auseinanderzusetzen, aber weil er die Feigheit nicht ins politische Geschäft bringen kann, verwandelt er seine egoistische Haltung durch einen rhetorischen Trick in einen Akt der persönlichen Härte. Immerhin hat er sein rebellierendes Gewissen zum Schweigen gebracht.
Wie zuvor erwähnt, er ist nicht alleine. Hierzulande verschliesst man weiterhin die Augen und versucht, seiner historischen Verantwortung mit Taschenspielertricks zu entkommen. Die FDP schlägt vor, es dem Uno-Sicherheitsrat zu überlassen, ob die Schweiz der Ukraine Rüstungsgüter weitergeben darf oder nicht, und weiss, dass dieser Fall nie eintreten wird. In diesem Gremium sitzt der Aggressor selbst, Russland mit seinem Veto-Recht. Die Grünen-Fraktionspräsidentin meint, die schweizerische Munition würde ohnehin keinen Unterschied machen und bedient sich ausgerechnet bei jenem Argument, mit dem über Jahrzehnte jede ökologische Politik bekämpft wurde.
Wie jede ethisch denkende und handelnde Person müssen Politikerinnen und Politiker Rechenschaft ablegen, nicht nur vor ihren Mitmenschen, sondern ebenfalls vor der Geschichte. Vor ihrem Urteil müssen unsere Entscheidungen bestehen. Hast du alles getan, um der Freiheit und der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen? Hast du versucht, das Gute zu erkennen und ihm zu dienen? Oder hast du deinen egoistischen Vorteil höher gewichtet? Hast du redlich argumentiert, oder hast du dem Zynismus und der Unmenschlichkeit das Wort geredet?
Wir Zeitgenossen können dem Urteil der Geschichte im Falle des Ständerats Jositsch aus dem Kanton Zürich nicht vorgreifen, sicher ist nur, dass die nachgeborenen Gerichte halten werden über seine Worte und Taten.