Sprache ist ein Kampfplatz. Die Gesellschaft streitet sich um Begriffe, die man nach Ansicht einiger nicht mehr verwenden darf, andere fürchten die Zensur, Karrieren finden ein abruptes Ende, weil bekannt wird, dass sich jemand ungehörig, verletzend und herablassend ausgedrückt hat.
Soziale Gruppen etablieren Konventionen, Regeln, denen sie folgen und die ihre Identität und ihre Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen definieren. Von den Mitgliedern wird Konformität gefordert, die Einhaltung dieser Regeln. Wer gegen sie verstösst, muss mit Strafe und mit Ausschluss rechnen. Konvention, Konformität und Sanktion – das ist die Funktionsweise einer Gesellschaft.
Hausordnung und Solidarität
Manche Konventionen sind formell, das heisst, sie sind schriftlich fixiert und dadurch transparent. Das Strafgesetzbuch definiert die Delikte und die Strafen. Die Strassenverkehrsordnung erlaubt innerorts fünfzig Stundenkilometer und droht mit Busse, Entzug des Fahrausweises und mit Gefängnis.
Auch die Hausordnung, die in fast jedem Treppenhaus hängt, formuliert Verbote und Gebote klar und deutlich. Keine Musik nach zehn Uhr abends, die Waschküche ist nach Gebrauch aufzuräumen. Und auch hier im Kleinen droht bei einem Verstoss dasselbe wie im Grossen: der Ausschluss aus der Gruppe, die Kündigung des Mietvertrags.
Formelle Konventionen regeln die Aufnahme und die Zugehörigkeit, über den Status, die Macht innerhalb der Gruppen, entscheiden vor allem die informellen Konventionen. Es sind die sprichwörtlich ungeschriebenen Gesetze, sie sind nirgends festgehalten, werden willkürlich definiert, und auch die Sanktionen im Fall einer Übertretung sind ungewiss.
Diese Regeln lassen sich nicht systematisieren, es gibt keine Theorie, die man lernen und der man folgen könnte. Nach der Hausordnung ist niemand gezwungen, seine Nachbarn freundlich zu grüssen, aber wer eines Tages auf ihre Hilfe angewiesen ist, weil ihm vielleicht das Salz ausgegangen ist, der wird merken, dass der Verstoss nicht unbestraft bleibt.
Wenn Zugezogene Dialekte übernehmen
Auch die Sprache ist eine Konvention. Die formellen Regeln sind definiert durch Orthografie und Grammatik. Wer sie beherrscht, gehört zur Sprachgemeinschaft. Seine Position allerdings ergibt sich auch hier erst durch die Kenntnis der informellen Regeln. Und auch im Fall der Sprache sind sie verteufelt schwer und manchmal überhaupt nicht zu lernen – und nur zu verstehen, wenn man die Machtverhältnisse begreift.
In der deutschsprachigen Schweiz erleben wir das täglich durch die Diglossie, durch die Teilung in eine formelle, das Hochdeutsche, und in eine informelle Sprache, den Dialekt. Einen Dialekt könnte man lernen, Orthografie, Grammatik oder die Aussprache sind nicht besonders kompliziert. Aber es wird erwartet, dass er bereits in der Kindheit erworben wird, und wer sich nachträglich das Bern- oder Zürichdeutsche aneignet, der täuscht eine Zugehörigkeit vor, die ihm nicht zusteht.
Von Zugezogenen wird ein Akzent erwartet, der sie als Fremde erkennbar macht. Die schweizerischen Dialekte verordnen nicht zuerst eine geografische, sondern auch eine soziale Zugehörigkeit, also den Status, und wie die Jugendsprachen, die dem Ausschluss der Erwachsenen dienen und ihnen verboten sind, erfüllen die schweizerischen Mundarten die Funktion eines Soziolekts.
Für Anerkennung gegen Konventionen verstossen
Informelle Konventionen stehen häufig in einem dialektischen Widerspruch zu den formellen. Was man in einer bestimmten sozialen Situation sagen soll, damit man zur Gruppe gehört, ist an anderer Stelle ausdrücklich verboten. Kinder benutzen unter sich die Wörter, die von den Erwachsenen sanktioniert werden.
Wer die Übertretung wagt, festigt die Gruppe gegenüber den Grossen und verschafft sich dadurch gleichzeitig einen höheren Status. Dieser Verstoss ist nicht etwa eine Ablehnung der formellen Konvention, im Gegenteil, es ist ihre Bestätigung. Es geht den Kindern nicht darum, die Regel abzuschaffen, sie wollen sie nur übertreten.
Dasselbe gilt für den Vorgesetzten, der gegenüber seinen Mitarbeitenden eine abwertende Sprache verwendet. Auch er definiert damit die Gruppe und seinen Status in ihr, und er wird, wie die Kinder, sobald sein eigener Chef den Raum betritt, augenblicklich auf die inkriminierten Begriffe verzichten.
Er wird niemals dafür kämpfen, seine Übertretung als neue Konvention zu etablieren. Denn damit würde ihm die Möglichkeit genommen, seinen Status innerhalb der Gruppe zu festigen. Er hat genügend Macht, um nicht konform zu sein und eine eigene, informelle Konvention zu etablieren. Wenn ihn jemand deswegen zur Rede stellt, wird er behaupten, seine Vulgaritäten nicht beleidigend gemeint zu haben, sein Sprechen sei uneigentlich, ironisch, und nur die Insider könnten begreifen, was tatsächlich damit gemeint sei.
Eine Konvention zu übertreten, mag sie formell oder informell sein, ist nicht schwierig, sie zu verändern allerdings schon. Es bedarf eines politischen Engagements, und in aller Regel ist damit Streit verbunden, aber je durchlässiger eine gesellschaftliche Gruppe, je weniger die Teilung zwischen Insider und Outsider funktioniert, umso weniger informelle Konventionen kann sie sich leisten. Uneigentliches Sprechen wird schwierig, weil ihre Mitglieder sich nicht mehr darauf verlassen können, dass sie sich den informellen Konventionen unterwerfen.
Mit einem Klick weiss die Gesellschaft Bescheid
Mit dem Verlust einer informellen Sprache verschwindet ein Machtmittel. Je egalitärer eine Gruppe, umso transparenter müssen die Regeln sein, nach denen sie funktioniert. Die Mitglieder müssen über die Konventionen reden und sie verhandeln können, die ungeschriebenen Gesetze müssen transparent und in Regeln überführt, die gelernt, von allen erworben und verändert werden können. Damit kommt die Machtfrage auf dem Tisch. Die Hüter der informellen Konventionen werden diese verteidigen. Ihr Status hängt davon ab.
Mit dem Ende der Privatheit verschwindet die private Sprache. Heute kann alles von allen zu jeder Zeit veröffentlicht werden: E-Mails, Chatverläufe, mit einem Klick weiss die ganze Gesellschaft Bescheid. Der einzige Schutz ist die Anonymität, sie ist die letzte Zuflucht der Unflätigen. Wer mit seinem Namen einsteht, hat seine Worte so zu wählen, dass sie zu jedem Zeitpunkt veröffentlicht werden können.
Das drohende Licht der Öffentlichkeit macht die Kommunikation ungemütlich und formalisiert sie. In einem privaten Austausch mag es ein Verständnis geben, wie ein gewisser Begriff gemeint war. Aber die Öffentlichkeit urteilt nicht nach dem Gemeinten, sie urteilt nach dem Gesagten. Und das ist vielleicht unangenehm, aber dieses Ende der Gemütlichkeit zeigt einen gesellschaftlichen Fortschritt an, weg von den ungeschriebenen Gesetzen, denen man sich zu unterwerfen hat, hin zu den geschriebenen, die man verändern kann.