Victor erholt sich gerade wieder einmal von einem (kleinen) Eingriff und schaut einäugig fern. Ich höre einen vertrauten Begriff, wenn auch mit starkem englischen Akzent ausgesprochen und setze mich dazu. Ich habe richtig gehört, es geht um den Glacier Express.
Victor schaut sich eine Reisesendung an, in der ein kulturbeflissener kanadischer Journalist die schönsten Zuglinien der Schweiz befährt. Dass er Ortsnamen wie Vitznau oder Kleine Scheidegg ein bisschen ungewohnt ausspricht, ist ihm an sich nicht vorzuwerfen.
Doch plötzlich erwacht mein meist eher passiver Patriotismus, und ich korrigiere und kommentiere drauflos wie jeder beliebige Sportfan während der Olympiade. Ich plustere mich auf, ich mache mich wichtig, ich bin stolz auf die Schweiz, auf ihre Landschaft, ihre Effizienz und ja, ihr Schienennetz.
Ich verzichte sogar auf den Hinweis, dass es da normalerweise mehr Leute habe. Dass man Siedlungen und Autostrassen aus dem Zugfenster sähe. Mein Patriotismus wächst mit jedem Jahr, in dem ich nicht in der Schweiz lebe. Das ist ein bekanntes Phänomen.
Victor hat mich seit dem Beginn unserer Beziehung mit seinem Wissen über mein Heimatland beeindruckt. Und das hat er sich nicht etwa meinetwegen angeeignet: Es gründet in einer anderen Leidenschaft, der für Züge.
Einer unserer ersten gemeinsamen Ausflüge führte uns zum Eisenbahnmuseum in Sacramento, komplett mit einer Rundfahrt in einem historischen Zug. Zur Erheiterung unserer Freunde hat Victor mich einmal unter falschem Vorwand zu einer Modelleisenbahnmesse gelockt. Er betont natürlich, dass das versprochene Essen in einem Restaurant am Meer durchaus stattgefunden habe – allerdings handelte es sich dabei um die Selbstbedienungscafeteria des Messegeländes.
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Er wusste also vor allem über Schweizer Züge Bescheid, kannte die Rhätische Bahn und konnte im Gegensatz zu mir auch ihre Spurweite nennen. Jetzt erkennt er den Train du Chocolat am Fernsehen noch vor mir und weiss auch, bei welcher Schokoladenfabrik er endet.
Und dann erzählt er mir etwas, das ich noch nicht wusste: Einer seiner Onkel, ein Ingenieur und passionierter Bergsteiger, sei regelmässig zum Wandern in die Schweiz gereist. «Siehst du, ich muss dein Land besuchen», sagte Victor. «Ich habe es schon im Blut.»
«Natürlich kommst du mit», sage ich tapfer. «Nächstes Mal bestimmt!» Das versichern wir uns seit zehn Jahren gegenseitig. Was haben wir nicht schon alles geplant: Zugreisen, Bergbahnfahrten, Schiffrundreisen und natürlich einen Besuch im Verkehrsmuseum.
Und das ist nur der Anfang, denn die Schweiz ist ja viel mehr als das: Die Schweiz ist vor allem ihre Menschen. Familie und Freundinnen, Verwandte und Bekannte. Die Schweiz ist Gärten und Küchentische und Balkone. So lange träumen wir schon von dieser Reise, diesen Besuchen, diesen Begegnungen und ja, auch diesen Zugfahrten. Wir malen sie uns in allen Einzelheiten aus, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie je stattfinden werden, mit den Jahren immer geringer wird.
Aber wir sind ja beide Künstler. Wenn wir etwas können, dann ist es, uns etwas vorzustellen, das (noch) nicht da ist. Das können wir sogar sehr gut. Bis wir es selbst glauben.
Und, wie heisst es noch so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wenn es nach mir ginge, gar nicht.