Milena Moser über moderne Zeitdiebe
Schritt-Atemzug-Besenstrich

Der weise Strassenkehrer Beppo aus einem meiner Lieblingsbücher «Momo» kommt mir in diesen Tagen wieder öfter in den Sinn. Seine Worte haben eine neue Bedeutung für mich bekommen.
Publiziert: 09.02.2025 um 09:46 Uhr
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Milena Moser geriet auf einer Dotcom-Party vor 25 Jahren ins Gespräch mit jungen Tech-Millionären. Diese nennt sie «Techies».
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Auf einen Blick

  • Techies machen Milena Moser Angst und erinnern sie an die grauen Herren aus «Momo»
  • Junger Mann auf Dotcom-Party erzählt von seiner ersten Million
  • Silicon Valley produzierte vor 25 Jahren täglich 64 neue Millionäre
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Es ist gut 25 Jahre her, dass ich unverhofft und uneingeladen in eine Party stolperte, irgendwo im Mission District in San Francisco, wo wir damals wohnten. Es war ein öffentliches Lokal, die Türen standen offen, ein Schild versprach Gratisgetränke. Ich merkte sofort, dass ich bei weitem die Älteste im Raum war, damals schon, und ausserdem eine von sehr, sehr wenigen Frauen. Es war eine Dotcom-Party, verstand ich schnell. So nannten wir die Techies damals: Dotcommer. Sie waren gerade wieder auf dem Vormarsch, wie Heuschrecken fielen sie über das sonnigste Viertel der Stadt her, das traditionell von Einwanderern aus Mittel- und Südamerika bewohnt wurde. Das ging nicht ohne Protest ab, aber sie waren nicht aufzuhalten. Sie mochten jung sein, aber sie hatten die Macht. Beziehungsweise das Geld. Ist das nicht ohnehin dasselbe?

Irgendwie landete ich an der Theke neben einem sehr jungen Mann, der mir, während ich auf meinen Gratisdrink wartete, voller Leidenschaft von «seiner ersten» erzählte – Million, nicht Frau. Das war damals gerade die Schlagzeile in allen Nachrichten, die Tatsache, dass Silicon Valley jeden Tag 64 neugebackene Millionäre ausspuckte. Ich stellte mir vor, wie die Dotcommer in ihren Kakihosen und unvorteilhaften Frisuren in einer langen Reihe vor einem Schalter anstanden, wo dann einer nach dem anderen einen Aktenkoffer voller Geld ausgehändigt bekam. Aber so war es natürlich nicht, das Geld war imaginär oder, wie der Fachbegriff lautet, virtuell.

«Du erinnerst mich an meine Mutter», sagte der junge Mann. «Du verstehst das Business nicht. Keine Ahnung, was?» Das traf es recht genau. Es interessierte mich auch wenig, zu hören, wie er «seine erste» zu vermehren gedachte. «Gehts dir denn nur ums Geld?», fragte ich, und er verdrehte die Augen. Ein anderer junger Mann gesellte sich zu uns und erzählte ungefragt, woran er gerade arbeitete, an einem Jetpack nämlich. Das war, so musste ich mir erklären lassen, eine Art Propeller in einem Rucksack, der einen hochheben und eineinhalb Meter über Boden durch die Luft befördern würde. «Stell dir vor, kein Stau mehr auf dem Weg zur Arbeit!»

Das fand ich traurig, dass er sich nur den Arbeitsweg vorstellen konnte und kein Abenteuer. Jahre später denke ich manchmal an diesen jungen Mann, wenn ich die nächste Generation der Techies auf ihre speziellen Busse warten sehe, brav am Strassenrand aufgereiht, mit ihren Kopfhörern und gekrümmten Rücken, jeder für sich, jeder allein. Die Busse sind doppelstöckig, ihre Scheiben verdunkelt, sie wirken bedrohlich. Ihr Anblick löst Unbehagen aus. Wäre es weniger bedrohlich, sie wie einen Insektenschwarm durch die Luft fliegen zu sehen?

Ja, die Techies machen mir Angst, seit damals, seit diesem Abend vor 25 Jahren. Sie erinnern mich an die grauen Herren aus einem meiner Lieblingsbücher «Momo». Es sind moderne Zeitdiebe, die vorgeben, uns das Leben mit ihren Erfindungen einfacher zu machen. Doch die so gewonnene Zeit gehört nicht uns. Wir vereinsamen zunehmend, wir sind verunsichert, reich werden andere. Reich werden sie. Das ist eine naive Sicht, das ist mir klar. Selbst mein Umfeld hat meine Ängste lange belächelt, als irrational bezeichnet. Keine Ahnung, wie oft diagnostiziert. Heute bin ich damit nicht mehr allein. Aber das ist ehrlich gesagt auch kein Trost. Stattdessen sage ich mir den berühmten Satz von Beppo Strassenkehrer vor wie ein Gebet: «Du darfst nie an die ganze Strasse auf einmal denken, verstehst du? Nur an den nächsten Schritt ...»

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